US-Wahlen: Zeit, den Stillstand zu feiern
Das Präsidentschaftsrennen ist noch nicht entschieden, aber die Märkte haben bereits ihre Schlüsse gezogen. Mit dem Eintreffen der Wahlergebnisse haben die Kursreaktionen bestätigt, dass die Investoren sich bei der Bewertung des sich abzeichnenden Wahlergebnisses auf zwei Themenkomplexe konzentrieren: die allgemeine finanzpolitische Stossrichtung der neuen Regierung und die darüber hinausgehenden präsidentenspezifischen Vorschläge.
Der wirtschaftliche Hintergrund dieser Wahl ist eine unvollständige globale Erholung, die nach wie vor durch die anhaltende Verbreitung des COVID-19 in vielen grossen Volkswirtschaften sowie durch die schnell verblassenden fiskalischen Unterstützungsmassnahmen bedroht ist. Da die Zinssätze und Anleiherenditen langfristig tief oder negativ sind, sehen die Investoren nur einen begrenzten Spielraum für die Zentralbanken, das Wachstum wieder anzukurbeln, wenn die globale Erholung an Schwung verliert. Auf den Finanzmärkten bildet sich der Konsens heraus, dass die Fiskalpolitik jetzt mehr Verantwortung für die Unterstützung des globalen Wachstums übernehmen muss, als sie es in den letzten zehn Jahren getan hat. Aus diesem Grund haben die finanzpolitischen Vorschläge der beiden Präsidentschaftskandidaten bei dieser Wahl eine so ungewöhnliche Bedeutung erlangt.
Kein Glücksfall
Natürlich werden die politischen Präferenzen des Präsidenten nicht der einzige Faktor sein, der das finanzpolitische Programm der neuen Regierung bestimmt. Der Senat wird einen grossen Einfluss auf den Umfang und die Art des Pakets haben, das letztlich geschnürt wird. Die schwindende Wahrscheinlichkeit eines von den Demokraten geführten Senats hat den Aussichten auf das Szenario der «blauen Welle», dass viele im Vorfeld dieser Wahl vorausgesehen hatten, einen schweren Schlag versetzt.
Paul O'Connor, Head of Multi-Asset, Janus Henderson InvestorsEine Biden-Bonanza, wie sie noch am Vorabend der US-Wahl ein Thema war, ist in weite Ferne gerückt.
Auf den ersten Blick erscheint die Erholung der Risikoaktiven unvereinbar mit den schwindenden Aussichten auf einen reflationären Konjunkturaufschwung in den USA. Die Sektoren, welche die Hauptnutzniesser von Bidens Ausgabenplänen gewesen wären, haben nach den Wahlen einen Schlag erlitten, und die US-Anleiherenditen haben sich nach unten bewegt, was das erwartete Auslaufen des grossen Konjunkturprogramms widerspiegelt. Bei den wichtigsten US-Aktienindizes wurden diese Auswirkungen jedoch durch die Erholung bei Gesundheits- und Technologieaktien und anderen Sektoren in den Schatten gestellt. Diese antizipieren, dass Joe Bidens Pläne für höhere Unternehmenssteuern und regulatorische Eingriffe durch einen Senat unter republikanischer Führung erstickt würden.
Ängste verblassen
Im Grossen und Ganzen deutet die Reaktion des Marktes darauf hin, dass die Finanzmärkte eine eingeschränkte Biden-Präsidentschaft bevorzugen würden, gegenüber einer, bei der er mit einem starken Mandat ausgestattet ist, und seine bevorzugte Politik umzusetzen kann. Dies ist keine ungewöhnliche Reaktion; tatsächlich lehrt uns die Geschichte, dass gespaltene Regierungen in der Regel eine bessere Aktienmarktperformance erzielt haben als geeinte, und die von den Demokraten geführten Regierungen haben dabei am besten abgeschnitten. In diesem Fall würden wir erwarten, dass die Verwässerung des Programms einer Biden-Regierung durch den Senat zu einer Verschiebung der Prioritäten hin zu einer Entlastung Fiskalhaushalts von Covid-19 und einer Erhöhung der Infrastrukturausgaben führen würde und weg von den Umverteilungspolitiken und regulatorischen Eingriffen, die einige der Börsengiganten erschüttern würden.
Da eine Reihe von Indikatoren darauf hindeutet, dass die meisten Anleger im Vorfeld eine recht defensive Positionierung angenommen hatten, scheint gerade eine recht typische Entlastungsrallye im Gang zu sein. Die Anleger setzen vorsorgliche Barguthaben wieder ein und lösen Hedge-Investment von vor den Wahlen auf. Die Aussicht auf eine von Biden geführte Administration, die die US-Regierung wieder zu orthodoxeren und multilateralen Ansätzen in den internationalen Beziehungen zurückführt und auch die Handelsbeziehungen mit Europa und Japan verbessert, fördert diese Entwicklung zusätzlich.
Keine Änderung der Spielregeln
Wenn man also davon ausgeht, dass das Ergebnis eines von Biden geführten Weissen Haus und einem republikanischen Senat immer wahrscheinlicher wird, dann werden wir ein Wahlergebnis haben, das bei weitem keine so grossen Veränderungen mit sich bringt, wie es ein demokratischer «clean sweep» gewesen wäre. Das ist eine Kombination, die zweifellos oft zu einem legislativen Stillstand führen wird und die Hoffnungen auf einen schnellen Wechsel zu einer transformativen US-Finanzreflation zunichte macht.
Auch wenn es durchaus möglich ist, dass es bei dieser Wahl länger dauern wird, bis eine formelle Lösung gefunden wird als bei den meisten anderen, werden die Finanzmärkte dies wie immer probabilistisch angehen und nicht darauf warten, dass jedes Detail formell überprüft wird. Das Wahlergebnis wird bald eingepreist werden, auch wenn das Ergebnis noch nicht offiziell feststeht. Die Aufmerksamkeit wird sich dann wieder auf die Wirtschaft und den anhaltenden Einfluss des Coronavirus auf die Makrodynamik verlagern. Ökonomen senken die Prognosen für das Wachstum im vierten Quartal in Europa und spiegeln damit den jüngsten Anstieg der Covid-19 Fallzahlen und teilweiser neuerlicher Lockdowns wider. Da der Virus auch in den USA an Dynamik gewinnt, könnten die damit verbundenen kurzfristigen wirtschaftlichen Risiken mehr Aufmerksamkeit der Investoren erhalten, sobald die Wahlnachrichten nachlassen.