Eine nominale Welt

Unsere Welt ist nominal. Das nominale Geschäftsvolumen wächst und wächst. In den letzten beiden Jahren ist das nominale BIP so stark gestiegen wie seit den frühen 1970ern nicht mehr. Kosten und Preise werden immer höher, Umsätze und Gewinne aber auch. Das schafft Gewinner und Verlierer.

Unter den Gewinnern waren viele Unternehmen. Hohe Umsätze und starke Preismacht liessen ihre Margen steigen. Nach der Bewertungskorrektur im letzten Jahr sorgten die stabilen Anleihenrenditen seit Oktober für steigende Kurse, denn Gewinne und Umsätze legten nominal zu. Das kann sich natürlich ändern, denn die Konjunkturerwartungen sind schwach. Nach dem strukturell höheren nominalen BIP-Wachstum in den letzten zwei Jahren könnten sich die Verluste aber in Grenzen halten und nur von kurzer Dauer sein. Langfristig sind die Wachstumserwartungen ohnehin gut – und viel Geld wartet darauf, investiert zu werden. Viel spricht für eine neue Hausse noch in diesem Jahrzehnt.

Geschichten von gestern: Internationale Aktien haben 2022 verloren, weil die Zinsen weltweit gestiegen sind. Die höheren Diskontfaktoren führten zu einer kräftigen Bewertungskorrektur. Auch das Makroumfeld war nicht gut: Die Inflation stieg deutlich, die Wirtschaft litt weiter unter der Pandemie, die starke Straffung der Geldpolitik verunsicherte, und die weltpolitische Lage verschlechterte sich. Der russische Einmarsch in die Ukraine sorgte für neue Spannungen zwischen dem Westen unter Führung der USA auf der einen sowie China, Russland und dem globalen Süden auf der anderen Seite. An all dem hat sich zuletzt nicht viel geändert. Und doch legten Aktien seit Jahresbeginn weltweit zu.

Kursgewinne seit Jahresbeginn: Investoren und Marktbeobachter, die viel auf das Makroumfeld geben, haben 2023 bislang falsch gelegen. Mit Anleihen hat man seit Jahresbeginn verdient, und die Aktienerträge sind ordentlich. Der S&P 500, ein Kurs­index, ist seit Jahresbeginn um etwa 7,7% gestiegen, und der Gesamtertrag des MSCI World Index beträgt 9,0%. Wie lässt sich das erklären? Das reale US-BIP hat im 1. Quartal um gerade einmal 1,1% zugelegt (annualisiert), die Kreditbedingungen werden straffer, und mehrere Banken sind zusammengebrochen. Umfragen zufolge hält sich der Optimismus für Aktien in Grenzen, und meine Gespräche mit Kunden bestätigen das. Fast alle rechnen mit einer Rezession in den USA und einem schwächeren Gewinnwachstum.

Langfristig sind die Wachstumserwartungen ohnehin gut – und viel Geld wartet darauf, investiert zu werden. Viel spricht für eine neue Hausse noch in diesem Jahrzehnt.

Chris Iggo, Chief Investment Officer, AXA Investment Managers

Nominal denken: Um die Aktienperformance zu verstehen, müssen wir meiner Meinung nach nominal denken. Meine Analyse beschränkt sich auf die USA, liesse sich aber auf andere Länder übertragen. Seit dem 1. Quartal 2020 ist die US-Wirtschaft nominal um 23% gewachsen. Im 1. Quartal 2023 betrug das nominale BIP-Wachstum 5,1% annualisiert und 7,0% zum Vorjahr, und in den letzten acht Quartalen lag das nominale Wachstum über dem Langfristdurchschnitt. Natürlich hat das viel mit der Inflation zu tun. Seit dem 1. Quartal 2020 ist das reale Wachstum um insgesamt 16 Prozentpunkte hinter dem nominalen zurückgeblieben. Mehr als zwei Drittel der 23% Nominalwachstum entfielen also auf steigende Preise. Das Geschäftsvolumen ist daher heute oft höher als vor ein oder zwei Jahren. Umsätze und Löhne legten zu. Die Einkommen mancher Wirtschaftssubjekte können durchaus hinter den Preisen zurückbleiben. Wenn die Inflation steigt, gibt es Gewinner und Verlierer.

Steigende Umsätze, höhere Margen: Die Auswirkungen auf den Aktienmarkt liegen auf der Hand. Weil die Umsätze nominal kräftig gestiegen sind, haben die Gewinne je Aktie beim S&P 500 um 25% zugelegt. Natürlich steigen bei einer hohen Teuerung auch Faktorkosten und Löhne, aber zugleich nimmt die Preismacht zu. Die Margen haben sich daher drei Jahre in Folge verbessert. Bloomberg schätzt den Tiefststand während der Pandemie auf 9,2% im 3. Quartal 2020. Doch im 1. Quartal 2023 waren es bereits 12,5%, und im 3. Quartal 2021 erreichten sie mit 14% ihren Höchststand. Auch die Umsätze legten weiter zu, allein 2022 um 7,9%.

Zinsen und Gewinne: Das absehbare Ende der Zinserhöhungen und der deutliche Rückgang der Langfristrenditen seit Oktober haben die Aktienbewertungen gestützt. Natürlich könnte man einwenden, dass die Kurs-Gewinn-Verhältnisse (KGV) in den USA noch immer zu hoch sind, und die höheren Kurzfristzinsen Aktiengewinne unwahrscheinlicher machen. Das mag zwar stimmen, aber wie lange noch? Und was ist mit dem künftigen Gewinnwachstum? Vergleicht man die aktuellen Gewinnrenditen der Unternehmen mit den Langfristzinsen, sieht es dann auch sehr viel besser aus. Entscheidend ist, dass die Inflation Umsätze wie Gewinne immer weiter steigen liess. Weil ausserdem die Zinserwartungen im Rahmen blieben, legten die Aktienkurse zu.

Danke, Warren! Kennen Sie den Buffett-Indikator – die Marktkapitalisierung von Aktien im Verhältnis zum BIP? Er zeigt das Volumen des US-Aktienmarktes dividiert durch das nominale US-BIP. Zurzeit beträgt der Quotient etwa 150%. Der Langfristtrend ist positiv, weil börsennotierte Unternehmen stärker vom Wirtschaftswachstum profitieren. Das galt besonders in den letzten zehn Jahren, weil die Reallöhne stagnierten. 2021 stieg der Buffet-Indikator auf 195%. Der anschliessende Rückgang hatte viel mit dem starken nominalen BIP-Wachstum zu tun (9% im Jahr 2022), aber auch mit den fallenden Aktienkursen. Zurzeit entspricht der Buffett-Indikator genau seinem Langfristtrend. Aktien sind demnach nicht billig, aber sie sind auch nicht überbewertet. Nach einem anderen Indikator, dem Kurs-Gewinn-Verhältnis, ist der Markt zurzeit etwas zu teuer: Das KGV des S&P 500 auf Basis der erwarteten 12-Monats-Gewinne beträgt 18,4 bei einem 25-Jahres-Durchschnitt von 15,9.

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