White Collar – Achtsamkeit

«White Collar» ist unsere Satire-Kolumne über (Un-)Sinnigkeiten aus der Geschäftswelt. In der neuen Folge widmet sich Andreas Hönger dem Thema «achtsame Lebensplanung».

Felix L. war mit seinem Leben zufrieden. Er wohnte mit seiner Familie im grossen Haus seiner Grossmutter, das er unentgeltlich nutzen konnte. Er war Veganer und hatte sich vorgenommen, sein Leben ohne CO2-Ausstoss und ohne Arbeit zu bestreiten. Da er leichte Verspannungen hatte und über eine Unmenge an Zeit verfügte, meldete er sich zu einem Yogakurs an. Da die Verspannungen sich nicht lösten und er auch an Langeweile litt, meldete er sich noch für Shiatsu an. Und für Watsu, Meditation und autogenes Training. Die angestrebte Ausgeglichenheit stellte sich aber nicht ein. Also erweiterte er sein Entspannungsportfolio mit Chigong, sakralem Tanz, Kundalini, Zen und erfahrbarem Atem. Das führte leider dazu, dass er kaum noch Zeit hatte vor lauter Terminen. Und statt sich zu entspannen, fühlte er sich ausgelaugt und stand kurz vor dem totalen Zusammenbruch.

Er konsultierte deshalb seinen Hausarzt, der bei ihm ein Relax-Burnout-Syndrom (RBS) diagnostizierte. Er verschrieb ihm die umfassende Abstinenz von Entspannungsübungen und die Ergreifung eines anständigen Berufes mit möglichst vielen Arbeitsstunden, bis sich Besserung einstellt.

Wenn Sie vor einer Tür stehen und warten, stehen Sie vor einer Tür und warten. Wenn Sie sich mit Ihrer Frau streiten, streiten Sie sich mit Ihrer Frau. Das ist Achtsamkeit. Wenn Sie vor einer Tür stehen und warten und die Wartezeit dazu nutzen, sich in Gedanken zusätzlich noch mit Ihrer Frau zu streiten – dann ist das nicht Achtsamkeit. Dann ist das einfach nur blöde.

Joschka Breitner «Entschleunigt auf der Überholspur – Achtsamkeit für Führungskräfte»

Als er aus dem Haus der Arztpraxis trat, wurde er fast von einem arroganten, jungen Banker in einem gelben Lamborghini angefahren, der flott auf dem Trottoir parkierte. Der Schnösel faltete sich lächelnd aus dem flachen Wagen, während er via Headset einen Deal einfädelte: «Kaufen! Was? Nein, Logo, das ganze Paket. 30 Millionen? Ok, Deal.» Da erkannte Felix L. mit einem Schlag, dass es ganz tief in ihm drin diesen warmen Kern gab; abseits von jeglicher Moral. Ein kraftvolles Gemisch aus Geldgeilheit, Geltungssucht und Konsumlust. Einfach das, was uns eigentlich zu Menschen macht. Und er wusste; er musste sein Leben grundlegend ändern und ausbrechen.

Diese Katharsis führte dazu, dass er seine Frau und seine fünf Kinder verliess, um in London Investmentbanker zu werden. Inzwischen ist er so glücklich wie noch nie. «Ich arbeite 18 Stunden am Tag, bin Single, kokse fast täglich und mache mir einmal pro Woche einen schönen Abend mit einem Top Call-Girl», erklärt er stolz.

Lebensziele hat er nur noch zwei: Er will in drei Jahren seine erste Million verdient haben und mit 80 glücklich an einem Herzinfarkt sterben. Zurück in sein altes Leben will er nie wieder.

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