Die Inflation ist aus den Schlagzeilen verschwunden
Wann haben Sie das letzte Mal von der Inflation gehört? Vor einem Jahr hätten die meisten diese Frage mit «heute Morgen» oder «gestern» beantwortet. Heute müssen sie zuerst überlegen, ob sie sich in den letzten Wochen zu diesem Thema Gedanken gemacht haben.
Man hat sich an die Geldentwertung gewöhnt und nimmt die neuen Inflationsraten mit einem Schulterzucken zur Kenntnis. Auch an den Finanzmärkten ist die Inflation kein grosses Thema mehr. Es blitzt ab und zu auf, um dann wieder von anderen Themen in den Hintergrund gedrängt zu werden. Man spricht lieber über bevorstehende Zinssenkungen, obschon die Inflationsentwicklung für die Geldpolitik der Zentralbanken eines der wichtigsten Entscheidungskriterien ist.
Thomas Stucki, Chief Investment Officer, St.Galler KantonalbankIn der Schweiz sind die Zinsen auf dem heutigen Niveau keine Konjunkturbremse.
In der Schweiz ist die Inflationsrate auf 1.7% gesunken. Damit können die meisten leben. Sie wird bis im Januar wieder auf 2% steigen, aber was solls? In Deutschland beträgt die Inflation immer noch 3.8%. Vor einem Jahr war sie bei fast 9%, was sind da schon 4%? In den USA ist die Inflationsrate wieder von 3.0% auf 3.7% gestiegen. Kein Problem, die Kernrate der Inflation sinkt ja. Diese Sorglosigkeit ist gefährlich. Die Zentralbanken tun gut daran, den Kampf gegen die Inflation weiterhin als vorrangiges Ziel bei der Gestaltung ihrer Geldpolitik zu betrachten.
«Sticky» vs. «Flexible» Inflation
Die Inflation ist ein internationales Phänomen. Ihre Charakteristik ist in den meisten Ländern ähnlich. Sie stieg im letzten Jahr überall steil an und ist nun überall auf dem Rückzug. Die Erkenntnisse aus den USA lassen sich daher in ihren Grundzügen auch auf Europa und die Schweiz übertragen. Wer genauer auf die Inflation schauen will, dem sei ein Blick nach Atlanta empfohlen. Der dortige Ableger der Fed bietet ein umfassendes statistisches Datenmaterial zur Preisentwicklung an. Besonders interessant ist die Aufteilung der Preise in die «Sticky Inflation» und «Flexible Inflation». Die «Flexible Inflation» umfasst die Güter, deren Preise häufig angepasst werden. Diese Preise reagieren vor allem auf das aktuelle konjunkturelle Umfeld. Die «Sticky Inflation» ist die Veränderung der Preise von Produkten und Dienstleistungen, deren Preise nur selten angepasst werden. Die Erwartung der zukünftigen Inflation ist daher ein wichtiger Faktor für die Festlegung des neuen Preises. Die «Sticky Inflation» ist mit 5.4% auf annualisierter Basis immer noch hoch und hält sich hartnäckig in diesem Bereich. Die «Flexible Inflation» schwankt naturgemäss sehr stark. Sie ist zuletzt wieder angestiegen, was vor allem den Benzinpreisen geschuldet ist. In den letzten Monaten bewegte sie sich jedoch um Bereich um 0%, während im letzten Jahr Werte zwischen 20% und 30% die Regel waren.
Inflation noch nicht besiegt
Die Akzeptanz von Preiserhöhungen und die Inflationserwartungen sind noch zu hoch. Diese zu senken, ist der schwierigste Teil auf dem Weg zurück zur Preisstabilität. Eine rasche Wende zu einer expansiven Geldpolitik ist daher nicht angebracht. Das heisst nicht, dass man die Leitzinsen nach dem schnellen und starken Anstieg nicht senken darf. Die Zentralbanken müssen auch die Konjunkturentwicklung im Auge behalten. In den USA ist das Zinsniveau mit über 5% hoch und für die Konjunktur auf Dauer eine Gefahr. Dass die Fed im nächsten Jahr die Zinsen langsam in einen konjunkturneutraleren Bereich senken wird, macht Sinn. In der Schweiz sind die Zinsen auf dem heutigen Niveau dagegen keine Konjunkturbremse.