Die Luftfahrtindustrie ist wiederstandsfähiger als man denken möchte

Das vergangene Jahr war übel für die weltweite Luftfahrt. Wenn man 2020 mit der Vergangenheit vergleicht, wird klar, wie schlimm der Einbruch beim Nachfragevolumen in der Luftfahrt war: Die weltweiten Flugreisen gingen 2020 um 65 Prozent zurück. Vor letztem Jahr belief sich der stärkste Rückgang, der jemals eingetreten war, auf 3 Prozent, und dazu war es nur dreimal gekommen.

Trotz des Ausmasses der Ereignisse gibt es Gründe, warum einige Sektoren innerhalb der Luftfahrt widerstandsfähiger sein könnten, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Die Luftfahrt war über die letzten vier Jahrzehnte eine ziemlich stabile langfristige Wachstumsbranche, und der Rückgang im Jahr 2020 war 20-mal schlimmer als das vorherige schlechteste Jahr in ihrer Geschichte. Interessant an dem drastischen Einbruch des Flugverkehrs ist jedoch die Tatsache, dass die Flugzeugproduktion nicht in gleichem Masse zurückging.

Auch wenn 2020 angesichts des drastischen Einbruchs des Flugverkehrs ein schmerzhaftes Jahr war, ist die Lufahrtindustrie langfristig weiterhin attraktiv aufgestellt.

Todd Saligman, Luftfahrtanalyst bei Capital Group

In der Luftfahrtbranche ist ein struktureller Wandel eingetreten. Trotz des starken Produktionsrückgangs im Jahr 2020 aufgrund von COVID-19 hat sich gezeigt, wie strukturell unterschiedlich die Branche im Vergleich zu vorherigen Rezessionen ist. Mitte der 1990er Jahre und Anfang der 2000er Jahre ging die Produktion um 40 bis 50 Prozent zurück, als das Reiseverkehrsvolumen im jeweiligen Jahr nur 2 bis 3 Prozent fiel. Als im vergangenen Jahr der Reiseverkehr um massive 65 Prozent einbrach, ging die Produktion in der gesamten Branche jedoch «nur» um 30 bis 40 Prozent zurück – und ein Grossteil davon war den Sicherheitsproblemen bei der 737 MAX und nicht COVID-19 geschuldet. Daher ist der starke Rückgang beim Luftverkehr zwar sehr schmerzhaft, doch hat er eigentlich gezeigt, dass die Branche weniger zyklisch ist als vor 20 bis 30 Jahren. Die Produktion war seit Beginn der 2000er Jahre viel stabiler.

  • Diversifiziertere Nachfrage
    Wachstums- und Ersatznachfrage:
    In der Vergangenheit erfolgten die meisten Flugzeuglieferungen in Reaktion auf das Wachstum der Branche. Heute ist die Verteilung gleichmässiger, d. h. etwa 60 Prozent der neuen Flugzeuge entfallen auf das Flottenwachstum und 40 Prozent dienen dem Ersatz älterer Flugzeuge. Ein wichtiges Merkmal der Ersatznachfrage ist, dass sie weniger zyklisch ist als die Wachstumsnachfrage.

    Geografische Nachfrage:
    Früher war die Branche stärker vom Schicksal der Fluglinien in den USA und in gewissem Masse in Europa abhängig, während es sich heutzutage um eine weltweite Branche handelt. Daher ist sie weniger abhängig von einer einzelnen Region, was auch zu einer Stabilität führt, die es in früheren Jahren nicht gab.

  • Grösserer Auftragsbestand
    Die Herstellung von Flugzeugen ist im Wesentlichen ein weltweites Duopol aus Airbus und Boeing. Vor der Krise führte die langfristige strukturelle Nachfrage nach ihren Produkten zu viel grösseren Auftragsbeständen als in der Vergangenheit. Zwar gab es eine erhebliche Anzahl an nicht ausgeführten Aufträgen bei Boeing und Airbus, da einige Fluglinien aufgrund der Auswirkungen von COVID-19 Bestellungen stornierten, doch insgesamt betrachtet sind die Auftragsbücher immer noch sehr gut gefüllt und die Nachfrage nach Flugzeugen ist gross. Der Umfang und die Robustheit der Auftragsbücher bringen Stabilität und Prognosesicherheit für die Erträge von Erstausrüstern.

  • Produktionsplanung
    Ein weiterer Unterschied gegenüber der Situation vor 20 bis 30 Jahren besteht darin, dass die Produktion heutzutage umsichtiger geplant wird. Zuvor wurde die Produktion sehr schnell in Reaktion auf Aufträge hochgefahren. Während des letzten Jahrzehnts liessen sowohl Boeing als auch Airbus Disziplin bei der Steigerung der Produktion walten, um Phasen eines erheblichen Überangebots zu vermeiden, was zu einer Verringerung der Zyklizität beiträgt.

  • Phase geringerer Entwicklung
    Sowohl Boeing als auch Airbus haben über die letzten 10 bis 15 Jahre Milliarden von Dollar in die Entwicklung neuer Flugzeuge investiert. Entwicklungsprojekte sind teuer und beinhalten ein gewisses Risiko. Aber die Entwicklungszyklen sind lang, sodass bei einer geplanten Einführung neuer Modelle vor 2030 die Entwicklungsarbeit schon laufen würde. Während mit kleineren Verbesserungen an aktuellen Flugzeugmodellen zu rechnen ist, ist nicht davon auszugehen, dass es kurz- bis mittelfristig komplette Neuentwicklungen geben wird, jedenfalls nicht bei Airbus. Bei Boeing besteht wohl eine grössere Notwendigkeit, in näherer Zukunft ein neues Flugzeug zu bauen. Ob dies aber geschieht oder nicht, wird davon abhängig sein, wie das Unternehmen auf die Herausforderung reagiert, vor der es bei seinem Modell 737 MAX steht. Trotzdem wird die Anzahl an Entwicklungsprojekten in den kommenden zehn Jahren viel geringer sein als in der Vergangenheit, was sich positiv auf die Margen und Renditen der Unternehmen auswirkt.

  • Effizienzsteigerungen stützen die Ersatznachfrage
    Das Verlangen nach Flugzeugen der neuen Generation hielt die Auftragsstornierungen verhältnismässig gering. Verglichen mit den beiden letzten Jahrzehnten, sticht 2020 trotz des hohen Niveaus an Ungewissheit nicht einmal als besonders schlechtes Jahr im Hinblick auf Auftragsstornierungen hervor. Die Stornierungen beliefen sich im letzten Jahr weltweit auf etwas über 1’500, was ungefähr 10 Prozent des gesamten Auftragsbestands darstellte. Und der grösste Teil davon betraf Flugzeuge von Boeing (die Stornierungen bei Airbus waren minimal) und hatte vermutlich seine Ursache in den Sicherheitsproblemen der 737 MAX.

Ein Grund für diese Widerstandsfähigkeit steht im Zusammenhang mit dem wirtschaftlichen Aspekt der Ersatznachfrage. Die heute erhältlichen neuen Flugzeuge sind 15 bis 20 Prozent treibstoffeffizienter als die vorherige Generation. Das stellt einen Effizienzsprung in der Grössenordnung von zwei Generationen dar. In der Vergangenheit boten neue Flugzeuge eine Verbesserung der Treibstoffeffizienz von etwa 5 bis 8 Prozent gegenüber dem vorherigen Modell. Die Treibstoffkosten sind in Abhängigkeit von der Fluglinie unterschiedlich, doch haben diese Effizienzsteigerungen erhebliche Auswirkungen auf die Margen der Fluglinien. Gehen wir einmal von der Schätzung für die Branche aus, dass Treibstoff 22 Prozent der Kosten einer Fluglinie ausmacht und der operative Gewinn bei 5 Prozent liegt. Wenn alle anderen Kosten gleichbleiben, bedeutet eine Senkung der Treibstoffkosten um 15 Prozent eine Gewinnsteigerung der Fluglinie von 5 auf 8 Prozent. Das ist eine Steigerung um 60 Prozent, allein durch den Austausch älterer Flugzeuge durch neue, treibstoffeffizientere Modelle. Daher ist es wirtschaftlich sinnvoll für Fluglinien, ältere Flugzeuge zu ersetzen, auch wenn sie keine neuen Flugzeuge für die Erweiterung ihrer Flotte anschaffen möchten.

Die im Wandel begriffenen wirtschaftlichen Gegebenheiten der Nachfrage und der Entwicklungszyklen hatten erhebliche Auswirkungen auf die Luftfahrtbranche. Auch wenn 2020 angesichts des drastischen Einbruchs des Flugverkehrs ein schmerzhaftes Jahr war, ist der Sektor langfristig weiterhin attraktiv aufgestellt.

Hauptbildnachweis: Boeing