Ukraine-Konflitk: Kriegsgefahr unwahrscheinlich, aber nicht gebannt
Mit etwas Verspätung haben die globalen Finanzmärkte auf die zunehmenden geopolitischen Spannungen in der Ukraine reagiert, die sich aus den russischen Forderungen nach einer Revision der jahrzehntelangen Ost-Erweiterung der Nato ergeben. Dass ein wiedererstarktes und zunehmend selbstbewusstes Russland eines Tages wieder eine Bedrohung für die wirtschaftliche Stabilität andere Länder darstellen könnte, ist jedoch nicht unbedingt eine Neuigkeit.
Die Investment-Experten von DWS gehen nach wie vor nur von einem dauerhaften Anstieg des Risikobewusstseins aus, nicht aber von weiteren signifikanten militärischen Eskalationen. Das heisst, es ist durchaus vorstellbar, dass die Spannungen und die russischen Invasionsdrohungen noch eine Weile auf einem hohen Niveau bleiben werden. Weitere Eskalationsschritte könnten Cyberangriffe, intensivere Kämpfe in der Ostukraine und möglicherweise auch russische Luftangriffe sein, um die Reaktion Kiews und des «Westens» zu testen. Dies würde wahrscheinlich dazu führen, dass weitere Sanktionen gegen Russland verhängt würden, während Russland die Gaslieferungen einschränken würde. Sogar ein Regierungswechsel in Kiew wäre denkbar.
Eine entscheidende Annahme für eine graduelle Eskalation, die nicht zu einem ausgewachsenen Bodenkrieg führt, ist, dass die diplomatischen Aktivitäten fortgesetzt werden und ernsthafte Anstrengungen unternommen werden, Russland gesichtswahrende Möglichkeiten zum Einlenken anzubieten. Die europäischen Bemühungen, das zweite Minsker Abkommen vom Februar 2015 wieder aufleben zu lassen, könnten sowohl in Kiew als auch in Moskau auf fruchtbaren Boden fallen. Allerdings könnte sich die Frage, wie freie und faire Wahlen in den abtrünnigen Regionen Donezk und Luhansk organisiert werden sollen, erneut als Stolperstein erweisen. Ein positives Zeichen für die Aussichten auf weitere Diplomatie ist in dieser Hinsicht die Abstimmung in der russischen Duma, die selbsternannte Unabhängigkeit dieser Regionen zumindest vorerst nicht anzuerkennen.
Weitere Eskalation nicht auszuschliessen – Implikationen für Finanzmärkte
Aber sollte nicht schon allein aus wirtschaftlichem Eigeninteresse eine wie auch immer geartete diplomatische Lösung recht schnell zustande kommen? Nach der heftigen Marktreaktion zu urteilen, scheint dies sicherlich bisher die Ansicht der breiten Aktien- und Anleihenmärkte gewesen zu sein. Offenbar hat sich Putin seit mehreren Jahren auf einen möglichen Konflikt vorbereitet. Die Regierung verfolgt seit 2017 einen strikten fiskalischen Sparplan, um die Abhängigkeit der russischen Wirtschaft von Importen zu verringern. Sie war bereit, dafür Wachstum zu opfern (und hat selbst während der Covid-Pandemie weiterhin diszipliniert die Gewinne aus dem Öl-Geschäft gespart). Die Verschuldung des russischen Unternehmenssektors ist auf einen historischen Tiefstand gesunken. Ebenso ist das russische Bankensystem im Gegensatz zu 2014 jetzt deutlich konzentrierter und wird von staatlich kontrollierten Instituten beherrscht, während ausländische Banken keine systemische Bedeutung haben. Die Abhängigkeit Europas von russischem Gas ist nach wie vor hoch, wird jedoch in den nächsten zehn Jahren wahrscheinlich schrumpfen, da die erneuerbaren Energien weiter ausgebaut werden. Ausserdem haben verschiedene Pipeline-Projekte dazu geführt, dass die Ukraine für Exporte nach Europa umgangen werden kann. All dies bedeutet nicht, dass eine weitere Eskalation nun unvermeidlich ist. Unzählige Kommentarkolumnen wurden in letzter Zeit der Psychoanalyse des russischen Führers gewidmet, oder es wurden endlos bestimmte Sätze und Phrasen analysiert. Entsprechende Analyseversuche greifen in der Regel in zwei entscheidenden Punkten zu kurz. Erstens ist Wladimir Putin selbst für russische Muttersprachler oft schwer zu verstehen. In den ersten Tagen seiner Präsidentschaft führten Putins volkstümliche Redewendungen oder kulturelle Anspielungen zu handlichen Wörterbüchern darüber, was dieser oder jener „«Putinismus» eigentlich bedeuten könnte. Diese Ambiguität mag teilweise beabsichtigt sein. Wie eine einflussreiche, in westlichen Sicherheitskreisen weit verbreitete Analyse vor ein paar Jahren formulierte: «Russlands Führung verfolgt eine Strategie, die gerne auch von Start-ups benutzt wird (...) Die Kennzeichen dieses Ansatzes sind kurze Zyklen bestehend aus Versuchen, Scheitern (zu noch geringen Kosten) und schneller Anpassung, (...) wobei der Anpassung Vorrang vor einer strukturierten Strategie eingeräumt wird. Dies kann verwirrend sein, wenn wie im Falle Russlands die strategischen Ziele festgelegt zu sein scheinen, während sich die operativen Ziele im Laufe der Anpassungszyklen ändern. Bei dieser Strategie gebiert Erfolg weiteren Erfolg, während Misserfolg nicht eindeutig ist und einfach zu einem neuen, angepassten Versuch führt.» Ob man dieser These nun folgt oder nicht, sie könnte die Entscheidung des Westens beeinflusst haben, Informationen freizugeben, um etwaige russische Pläne für einen Einmarsch in die Ukraine zu erschweren.
DWSDie Abhängigkeit Europas von russischem Gas ist nach wie vor hoch, wird jedoch in den nächsten zehn Jahren wahrscheinlich schrumpfen, da die erneuerbaren Energien weiter ausgebaut werden. Ausserdem haben verschiedene Pipeline-Projekte dazu geführt, dass die Ukraine für Exporte nach Europa umgangen werden kann.
Vor diesem Hintergrund ist es sicherlich noch zu früh, russische Bemühungen um eine schnelle Deeskalation auszuschliessen. Gleichwohl könnte jede der beteiligten Parteien einen Konflikt auslösen oder sogar in einen Konflikt stolpern, der schliesslich zu einer gross angelegten Invasion Russlands führt. Es versteht sich von selbst, dass ein solcher Krieg nicht schnell und «effizient» verlaufen würde, sondern wahrscheinlich zu lang anhaltenden guerillaähnlichen Auseinandersetzungen führen würde. Die öffentliche Unterstützung in der Ukraine für einen engeren Zusammenschluss mit Russland war von Anfang an nicht einheitlich hoch und ist in den letzten Jahren und Monaten wahrscheinlich weiter gesunken. Eine gross angelegte Invasion würde Russland wirtschaftlich weit mehr schaden als die bestehenden und angedrohten Sanktionen. Potenzielle Verbündete wie China würden ein solches Extremszenario nicht unbedingt mittragen. Rein finanziell gesehen könnte Russland eine solche Periode des globalen Ausschlusses einige Zeit überstehen, allerdings nicht ohne schwere Schäden für eine Wirtschaft, die ohnehin an einem sehr geringem Wachstumspotenzial leidet. Die Unzufriedenheit im Lande könnte wachsen und weitere Repressionen erforderlich machen. Und die weltweiten Inflationssorgen würden weiter ansteigen, wobei Europa aufgrund der anhaltenden Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen wahrscheinlich am stärksten betroffen wäre.
Insgesamt klingt das nach einer sehr riskanten Angelegenheit für alle Beteiligten. Abgesehen vom Anstieg der Gas- und Ölpreise könnten die weltweiten Lebensmittelpreise angesichts der Bedeutung Russlands und der Ukraine für den Weizenanbau weiter steigen. Auch Russlands Rolle als Rohstofflieferant bzw. als Lieferant von veredelten Aluminium-, Palladium-, Kupfer- und Nickelprodukten könnte sich an den Märkten bemerkbar machen und zu erneuten Lieferschwierigkeiten im Westen führen. Ganz zu schweigen von den politischen und wirtschaftlichen Auswirkungen von etwaigen Zweitrundeneffekten. Doch bisher sind von den Konfliktparteien noch nicht genügend konkrete Schritte eingeleitet worden, damit die Märkte jene Schäden einpreisen, die Europa und der Wirtschaft der übrigen Welt durch den Anstieg der Öl- und Gaspreise entstehen würden.