Ziemlich reich, aber auch ein bisschen arm
Am vergangenen Wochenende fuhr ich mit der Bahn nach Dortmund um den Bundesligaklassiker Borussia Dortmund gegen Borussia Mönchengladbach im Westfalenstadion, das heute Signal Iduna Park heisst, live zu verfolgen. Ein Härtetest für den öffentlichen Verkehr, namentlich für die Deutsche Bahn, die bekanntermassen als der lebende Gegenbeweis für die vielgelobte deutsche Gründlichkeit steht.
Sicher war auf diesem Tripp in den Ruhrpott nur eins. In Basel würden wir pünktlich eintreffen. Es sei denn, ausgerechnet dieser Zug gehört zu den wenigen 3,7% der Schweizer Züge, die etwas verspätet sind, oder anders ausgedrückt: 96,7% aller Züge sind hierzulande pünktlich. Zum Vergleich dazu kommt Deutschland auf eine lausige Quote von 63,6%, also gut ein Drittel der Züge sind dort verspätet. Damit liegt Deutschland im europäischen Vergleich auf einem der hintersten Plätze. Zu diesen Ergebnissen gelangte das Online-Portal «Reisereporter» im Jahre 2022, basierend auf Auswertungen des Portals «zugfinder.net». Zu völlig anderen Zahlen kommt die Deutsche Bahn selbst. So meldet «Statista», die Nr. 1 der deutsch-sprachigen Statistik-Portale, das Daten von Markt- und Meinungsforschungsinstitutionen sowie aus Wirtschaft und amtlicher Statistik sammelt und öffentlich zugänglich macht, Pünktlichkeitsquoten der deutschen Bahn von über 90%. Also schon fast so pünktlich wie die Züge hierzulande. Worüber regen sich die Deutschen dann auf?
Gehen wir also mal zur Homepage der Deutschen Bahn (DB). Dort heisst es: «Die Züge von DB Regio sind im April pünktlicher unterwegs gewesen als noch in den Monaten zuvor. 93,3 Prozent der Züge des Regionalverkehrs haben im April pünktlich ihr Ziel erreicht (März: 92,6 Prozent).» Allerdings heisst es weiter unten: «Ein Halt wird als pünktlich gewertet, wenn die planmässige Ankunftszeit um weniger als 6 bzw. 16 Minuten überschritten wurde.» Aha, Pünktlichkeit ist demnach eine Frage der Definition. Doch jetzt kommt’s: «Die ICE- und IC-Züge waren im April rund zwei Prozentpunkte (70,3 Prozent) pünktlicher unterwegs als im Vormonat.» Fazit: Man muss Langstrecken also am besten mit den Regionalzügen zurücklegen, dann ist man zwar länger unterwegs, muss wahnsinnig oft umsteigen, ist aber immerhin pünktlich. Am Montag vor einer Woche waren 55,6% der ICE-Züge (Intercity-Express) verspätet, einer um satte 228 Minuten. Und zu guter Letzt «verfuhr» sich am Wochenende der ICE nach Berlin, weil er in Hildesheim Richtung Magdeburg statt Berlin abbog, wie die DB bestätigte. So was kann hierzulande nicht passieren, werden Sie jetzt denken und dürften damit Recht haben. Wir wechseln deshalb die Szene und kehren in die pünktliche Schweiz, die Insel des Wohlstands, zurück.
Martin Neff, Chefökonom RaiffeisenIn der Schweiz waren im Jahr 2021 fast 450’000 Personen (5,2% der Bevölkerung) gezwungen, auf wichtige Güter, Dienstleistungen und soziale Aktivitäten zu verzichten.
Ist das so oder genauso ein Mythos wie die deutsche Gründlichkeit? Mehr Ja als Nein, kann ich schon mal vorwegnehmen, aber wie so oft bei Statistiken der Fall: Man muss sie nicht nur genau lesen und sauber interpretieren, sondern sich vor allem eines bewusst sein: Jeder Durchschnitt versperrt die Sicht auf die Ränder. Die Schweiz gehört bekanntlich zu den wohlhabendsten Ländern der Welt. Um unseren Lebensstandard müssen wir uns hierzulande beileibe kaum sorgen. Das bestätigte auch unser Bundesamt für Statistik in einer Medienmitteilung vom letzten Dienstag, dem 2. Mai. Im Lead heisst es dort unter anderem: «Der allgemeine Lebensstandard in der Schweiz gehört weiterhin zu den höchsten Europas.» Das stimmt selbstverständlich, doch gilt es nicht für alle. Denn der Titel der Pressemitteilung lautete: «In der Schweiz war 2021 jede zwanzigste Person materiell und sozial benachteiligt.» Das Thema der Erhebung war auch nicht der Wohlstand, sondern die wirtschaftliche und soziale Situation der Bevölkerung mit dem Untertitel «Einkommen, Armut und Lebensbedingungen». Demnach waren in der Schweiz im Jahr 2021 fast 450’000 Personen (5,2% der Bevölkerung) gezwungen, auf wichtige Güter, Dienstleistungen und soziale Aktivitäten zu verzichten. Die Armutsquote betrug 8,7% will heissen, fast 750’000 Personen waren einkommensarm oder hatten überhaupt keine Erwerbseinkommen. Bei den Erwerbstätigen wiederum lag die Armutsquote bei 4,2%, sie waren sogenannte «working poor». Im internationalen Vergleich liegen wir mit solchen Werten natürlich im untersten Bereich. Im Ausland siehts fast durch die Bank schlimmer aus. Doch das ist nicht weiter beruhigend, denn auch hierzulande zeigt der Trend in die falsche Richtung. 2014 lag die Armutsquote noch bei 6,7% und 3,4% waren «working poor». Wir sollten uns daher mit den Besten messen und nicht mit Ländern vergleichen, in denen die Müllabfuhren streiken, die Strassenbeläge desaströs und die Bahnen verspätet sind oder der Service public diesen Namen längst nicht verdient. Zur Tagesordnung überzugehen, weil es anderswo viel schlechter ist, ist die falsche Strategie, zumal in einem Land, das auf seinen Wohlstand so stolz ist und die soziale Kohärenz so hochhält. Gerade in Zeiten von Devisenmarktinterventionen, Fiskalpaketen und Bankenrettungen müsste doch eigentlich auch noch etwas Geld zur Beseitigung der Armut übrig sein und nicht «nur» zu deren Linderung. Es wäre schön, wenn nach der nächsten Erhebung zur wirtschaftlichen Situation der Schweizer Bevölkerung stünde: Alle Haushalte sind mittlerweile in der Lage innerhalb eines Monats unerwartete Ausgaben in Höhe von CHF 2’500 zu begleichen. Bis zuletzt konnten das 18,9% nicht. Ich wage ein philosophisches Schlussvotum: In einem reichen Land gibt es keine Armen.