Digitaler Wahn überall
Aus den Osterferien bin ich voller Eindrücke in die Schweiz zurückgekehrt, und wissen Sie, was mich dabei am meisten freut? Es ist die Zuverlässigkeit.
Zwar nervt sie ja auch, denn diese Zuverlässigkeit gibt keinerlei Spielraum für emotionale Regungen. Höchstens dass wir uns hierzulande echauffieren, wenn der Zug fünf Minuten zu spät kommt, was anderswo ein freudiges Ereignis wäre; denn dort hiesse es dann: «nur fünf Minuten». Wenn hingegen – beispielsweise in Palermo – die übliche Verspätung herrscht, wird es interessant. Dann nämlich strebt die vielgepriesene soziale Interaktion gen Himmel. Gesten jeder Art, von Gebeten über Beschwörungen hin zu Flüchen oder auch nur offen zu Tage getragener Frust mit ausdrucksstarker körperlicher Regung machen die Runde und es herrscht seltene Einigkeit darüber, dass hier nur noch Fatalismus hilft. Derweil klatschen die Ohrfeigen, weil die Kinder ausser Rand und Band sind, doch all das ist irgendwie Vergangenheit, wie ich sah. Ein italienisches Klischee, das welkt.
Martin Neff, Chefökonom RaiffeisenEin Wettlauf im Netz und nicht im Kopf.
Mein Jüngster war höchst angetan von der Lockerheit, wie man auf Sizilien mit Unwägbarkeiten umgeht. Allein schon, dass es Unwägbarkeiten gibt, hat ihn mächtig beeindruckt. Nichtsdestoweniger hat sich auf Sizilien (Italien) in den letzten dreissig Jahren einiges getan. Die soziodemografischen Entwicklungen hinterlassen einen grossen Fussabdruck und die Digitalisierung verändert das oben beschriebene Bild massiv. Wenn der Zug – oder wie in unserem Fall die Fähre – heute zu spät kommt, geht es recht gesittet zu. Und es herrscht schon fast gespenstische Stille für südländische Gefilde. Erstens sind die röhrenden Kinder sowieso in der Minderzahl, fast schon eine aussterbende Spezies, und zweitens hat jeder, aber wirklich jeder sein Telefonino, sein Smartphone vor der Nase. Im Restaurant dominieren nicht (mehr) laute Diskussionen und ungeniert extrovertierte Gefühlsregungen das Geschehen, sondern einzig der elektronische Bildschirm. Familien nehmen am Tisch Platz und statten als Erstes ihren Nachwuchs mit der Elektronik aus, um dann selbst ungestört auf dem Bildschirm wischen zu können. Die Bestellung wird so en passant aufgegeben, auch hier ist von menschlicher Interaktion nichts mehr zu spüren. Überhaupt schien nicht die Speisekarte die Wahl des Restaurants zu dominieren, sondern einzig das Kriterium: «Hat es WLAN, ja oder nein?».
Urlaub ist für mich auch immer die Zeit, um mal wieder ein Buch aus- und anzupacken. Diesmal waren es Dave Eggers «Der Circle» (zum zweiten Mal!) und Anna Wieners «Code kaputt», die mich in ihren Bann zogen. Beide konzentrieren sich auf die Abgründe des Vernetzungswahns und der durch die Digitalisierung geschaffenen anderen Welt, fernab der eigentlichen Realität, was ich auf Sizilien täglich am eigenen Leib 1:1 verspürte. Ausgerechnet auf einer Insel, die nur so strotzt vor historischem Erbe, das zu erschliessen ein Leben füllen würde. Ich kann diese Lektüren jedenfalls nur empfehlen! Alle magischen Orte, welche die Insel zu bieten hat, werden nicht erlebt, sondern unmittelbar ins Netz gestellt. Via FaceTime lassen die Touris ihre Daheimgebliebenen unmittelbar am Abenteuer teilhaben und wer nicht postet, der rostet, so scheint es wenigstens. Ein Wettlauf im Netz und nicht im Kopf. Diese virtuelle Hochgeschwindigkeitskommunikation lässt weder Raum noch Zeit, die Tiefen dessen zu ergründen, was man da sieht. Griechen, Römer, Karthager, Byzantiner, Araber, Normannen, Staufer und noch so viele Hochkulturen hinterliessen auf Sizilien einzigartige Spuren, beeindruckende notabene. Doch das ist Nebensache, Hauptsache die Posts sind schön und fancy, das Selfie adrett und der relevante, aber für die Community eher klägliche Rest lässt sich ja googeln. Silicon Valley hat einen Verdrängungsprozess historischen Ausmasses in Gang gesetzt, der gerade an solch historisch einzigartigen Orten sichtbar wird. Die Effizienz dominiert die Emotion – schnell und viel, anstatt langsam, aber dafür richtig. In Piazza Armerina besuchte ich nunmehr das vierte Mal in 25 Jahren eine römische Villa, die für ihre sensationell gut erhaltenen Mosaiken zum Weltkulturerbe aufstieg. Es gibt sie noch, die Fremdenführer, die einen durchs Gelände leiten und interessante Details offenlegen, nur hört fast niemand mehr zu. Die Schulklassen waren zumindest alle am Handy. Das soll Wertschöpfung sein?