Virale Pheromone

Wer das Wort Pheromone googelt, stösst im Internet auf folgende Definition: «Pheromone sind Botenstoffe, die der biochemischen Kommunikation zwischen Lebewesen einer Spezies dienen.» Das gilt also auch für die Spezies Mensch, denn wie wir alle wissen: nicht alle Mitmenschen riechen gleich und drum heisst es im Volksmund auch: «Den kann ich überhaupt nicht riechen».

Bei Heuschrecken lösen Pheromone offenbar fatale Effekte aus. Sie führen dazu, dass Heuschrecken Schwärme bilden. Wie es dazu kommt, haben Wissenschaftler der Chinesischen Akademie der Wissenschaften herausgefunden. Die gefürchteten Wanderheuschrecken ziehen sich gegenseitig an, weil sie über bestimmte Sinneszellen verfügen, die sich in den Fühlern der Heuschrecken befinden, und so den Geruch von Pheromonen aufnehmen können. Dieser Geruch wirkt wie ein unwiderstehlicher Lockstoff und löst so die fatalen Schwarmbildungen aus.

Auch wir entwickeln zusehend Wanderheuschrecken gleichende Verhaltensweisen.

Martin Neff, ehemaliger Raiffeisen-Chefökonom

Unsere Sinneszellen sind zwar nicht annähernd so sensitiv wie die Fühler von Insekten. Ansonsten entwickeln aber auch wir zusehend Wanderheuschrecken gleichende Verhaltensweisen. Das hat mehrere Gründe. Zunehmender Wohlstand und die Globalisierung haben dazu geführt, dass es heute weltweit immer mehr touristische Hotspots gibt. Einerseits ist die Kundenbasis gewachsen und mittlerweile fast unerschöpflich gross, andererseits sind die Preise für jegliche Art von Reisen heute massiv günstiger als zu Beginn der Globalisierung. Der Massentourismus ist der schmutzige Ausfluss dieser beiden Phänomene, denn er grast heute fast sämtliche Urlaubsdestinationen förmlich ab. Wer konnte es sich vor gut 30 Jahren schon leisten, Urlaub in Bali zu verbringen oder zum Weihnachtsshopping für ein paar Tage nach New York zu fliegen? Heute kann das zwar noch nicht gerade jeder, aber schon jetzt sind es eindeutig zu viele. Barcelona oder Venedig können ein Lied davon singen, was es heisst, von Massen überschwemmt zu werden, zumal die Touristenschwärme alles andere als zimperlich sind. Lärm und Müll an allen Orten sind die Überreste der unersättlichen Futterwerkzeuge der zweibeinigen Heuschrecken. Einheimische Spezies werden dabei sukzessive verdrängt.

Längst sind es nicht nur die mondänen Orte, die überschwemmt werden, denn inzwischen ist es nur noch für die Massentouristen hip, die bekannten Hotspots heimzusuchen. Wer etwas auf sich hält, differenziert sich von den Massen, sucht die Nischen, das Spezielle, Originelle, nur wenig(en) Bekannte, und sei’s auch nur für ein paar Selfies. So kann er sich noch vom Schwarm der Heuschrecken abheben. Die entsprechenden Pheromone senden die viel zu vielen, oft unbedachten und darum – wie ich meine – verantwortungslosen Influencer und Reiseblogger digital, in dem sie uns über das weltweite Netz darüber auf dem Laufenden halten, was gerade angesagt ist und wo es noch richtig kuschelig ist. Je nach Followerzahl lösen sie mit ihren Tipps einen neuen Touristenschwarm aus, dem die Destination nicht mehr gewachsen ist. Was dann gestern noch Geheimtipp war, ist heute angesagt und morgen out und abgegrast. Auch in der Schweiz haben wir entsprechende Erfahrungen gemacht, etwa im Berggasthaus Äscher (Wildkirchli) im Alpstein, das 2018 dermassen überrannt wurde, nachdem es im Netz angepriesen worden war, dass das Wirtsehepaar den Bettel hinschmiss. Andererseits profitieren etliche Destinationen auch von der viralen Verbreitung der Botenstoffe. Das Hotel Villa Honegg in Ennetbürgen erlebte einen wahren Boom, nachdem im Netz ein Video des Infinity-Pools über 120 Millionen Mal angeklickt wurde, was den Gastgeber sehr freute. Der Umsatz stimmt heute, dafür musste man aber ein Fotoverbot rund um den Infinity-Pool verhängen, weil sich Hotelgäste durch die Selfie-Manie gestört fühlten. Mittlerweile buchen ca. 20 Prozent der 18- bis 30- Jährigen Destinationen, die sie auf Instagram sehen – und stellen natürlich noch mehr Bilder auf Instagram, wodurch das Wachstum schnell mal exponentielle Züge erreicht. Sowieso hat man den Eindruck, dass es weniger ums Sehen und Erleben geht, sondern darum, zu zeigen, an was für exotischen Orten man gerade Selfies macht. Wenn ich früher einmal – egal wo – einen besonders schönen Ort entdeckt hatte, hielt ich diesen möglichst geheim. Im Wissen, dass seine Schönheit mit der Masse rasch einmal verblühen würde. Ein Geheimtipp heute scheint nur noch einer zu sein, wenn er möglichst viel geteilt wird und auf viele Klicks hoffen darf. Doch dann sind die Pheromone auch schon auf Locktour nach den Heuschrecken.

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