Die antikompetitive Pädagogik hat den Skihang erreicht
Mit dem Ende der Sportwochen geht auch die Skisaison in ihre letzte Phase und deren Höhepunkt ist auch bereits vorüber: die Kinderskirennen. Es sind Veranstaltungen, bei denen das sportliche Talent des Nachwuchses gefeiert und der elterliche Ehrgeiz schon mal zum Slalomlauf des Anstands wird.
Auch dieses Jahr kam ich aus dem Kopfschütteln kaum heraus beim Anblick des Spektakels. Denn machen wir uns nichts vor: Ein Kinderskirennen ist nicht einfach nur ein harmloser Wettkampf kleiner Skihasen. Nein, es ist ein gesellschaftliches Brennglas. Hier, zwischen übermotivierten Eltern, zitternden Nachwuchsathleten und Trainern oder mit Stoppuhrfetisch, offenbart sich so einiges über den Zustand unserer Gesellschaft.
Die Skistars von morgen?
Auf der Piste stehen die Fünf- bis Fünfzehnjährigen, von oben bis unten mit Material ausgerüstet, bei dem nur das Beste gut genug ist. Unter dem Helm leuchten grosse, aufgeregte Augen, die mal voller Euphorie, mal voller stiller Verzweiflung sind. Denn so ein Kinderskirennen kann zwei völlig unterschiedliche Gefühlswelten hervorrufen: durch Adrenalin oder akute Fluchtgedanken. Während die ersten mutig aus dem Starthaus schiessen, sehen andere ihr Leben an sich vorbeiziehen und überlegen, ob eine Karriere als Schneemann nicht doch die bessere Option wäre. Aber keine Sorge, falls der Sprössling nicht gerade im Stil von Marco Odermatt den Hang hinunterjagt – die sportlichen Ambitionen der Eltern sind ohnehin oft grösser als die der Kinder.
Die wahren Athleten und Athletinnen stehen am Rand
Ah, die Eltern! Sie sind das eigentliche Spektakel. Sie stehen am Pistenrand, mit Smartphone im Anschlag, in einer Haltung zwischen Anspannung und verzweifelter Machtlosigkeit. Manche brüllen Anweisungen, als wäre ihr Kind in einem Weltcupfinale «Mehr auf Zug fahren! Kante setzen!», andere laufen parallel zur Strecke mit, rufen inbrünstig «Gib Gaaas!», während sie selbst die glatte Piste herunterrutschend nur mit Mühe einen Sturz vermeiden können.
Fredy Hasenmaile, Raiffeisen-ChefökonomEs dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis die ersten Eltern mit dem Anwalt auf die Skischule losgehen.
Noch besser sind die – vornehmlich – Väter, welche auf Ski und mit Smartphone am Pistenrand halsbrecherisch zwischen den Zuschauern und hindurch hinter ihren Schützlingen herunterbrettern, um jede Sekunde des Laufs auf Video festzuhalten und noch während des Rennens korrigierend einzugreifen. Die armen Kinder. Nicht mal unterwegs ist ihnen für kurze Zeit Ruhe vor den Ratschlägen der Eltern gegönnt. Den Vogel abgeschossen hat jener Vater, der hinter seinem Filius auch gleich noch mit ins Ziel fuhr – und damit durch die Lichtschranke, weshalb das nachfolgende Kind noch heute nicht weiss, welche Zeit es gefahren hat.
Die Eltern werden extremer
Andere Eltern praktizieren genau das Gegenteil. Sie versuchen ihre Schützlinge vor jeder Kritik zu bewahren. Egal wie quer ihr Nachwuchs den Hang herunterkommt, sie schreien die ganze Zeit nur «Super, super, weiter so». Auch beim Dreikäsehoch, der noch nicht begriffen hat, dass die Stangen eigentlich im Slalom zu umfahren sind. Dabei wollen auch die Kleinen besser werden und können mit Kritik lockerer umgehen als mancher Erwachsener. Man kann die Eltern in zwei Gruppen einteilen, die extrem Ehrgeizigen und die extrem Ängstlichen. Deren Angst vor Niederlagen oder Preisverleihungen wird gefühlt jedes Jahr grösser. Beide tun ihren Kindern keinen Gefallen. Immer mehr beginnen sich auch die Regeln aufzuweichen. Zog in meiner Kindheit das Auslassen eines Tores automatisch die Disqualifikation nach sich, wird heute grosszügig darüber hinweggesehen. Ganz im Sinne der integrativen Förderung, wonach die Latte an der Höhe der Schwächsten ausgerichtet wird. Eine gefährliche Strategie. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis die ersten Eltern mit dem Anwalt auf die Skischule losgehen. Erste Skischulen haben sogar das Kinderskirennen gleich ganz abgeschafft. Zu gross seien die psychische Belastung, der Druck und die Nervosität der Kinder. Die antikompetitive Pädagogik hat demnach bereits den Skihang erreicht. Ob das der Weisheit richtiger Schluss ist, wage ich zu bezweifeln. Das Leben ist doch eine ewige Skischule: umfallen und wieder aufstehen, sich überwinden, scheitern und wieder von vorn beginnen.
Die wahren Gewinner
Am besten gehen die ganz Kleinen mit all dem Stress um. Mit grosser Gelassenheit und aller Zeit der Welt pflügen sie von Tor zu Tor und winken allen zu, die sie am Rande der Piste wahrnehmen – mit sich und der Welt völlig im Reinen. Einige werden sogar von den nach ihnen Gestarteten überholt und es macht ihnen nichts aus. Zum Glück gibt es sie noch: Die Kinder, die nach dem Rennen zwar keinen Pokal, aber rote Wangen haben, die den letzten Platz mit einer heissen Ovi begiessen und die nicht wissen, ob sie heute gewonnen oder verloren haben – weil sie einfach Spass am Skifahren hatten. Sie sind die wahren Gewinner.