Evergrande ist nicht «too big to fail»

Angesichts von Spekulationen, dass ein Zahlungsausfall von Evergrande die gleiche Bedeutung wie die Insolvenz von Lehman Brothers im Jahr 2008 haben könnte, machte sich kurzweilig Panik auf den globalen Märkten breit. Evergrande kündigte an, dass es den Fall einer überfälligen Zinszahlung für inländische Anleihen «gelöst» habe. Es gab zudem Gerüchte, dass drei Staatsunternehmen den angeschlagenen privaten Immobilienentwickler übernehmen könnten.

Eine umfassende Restrukturierung der Verbindlichkeiten des Unternehmens in Höhe von insgesamt ca. 300 Milliarden US-Dollar ist so gut wie sicher. Die Regierung forderte das Unternehmen am Donnerstag auf, den kurzfristigen Ausfall von Dollar-Anleihen zu vermeiden. Möglicherweise tätigt das Unternehmen seine Kuponzahlung noch innerhalb der 30-tägigen Frist. Die Regierung will jedoch gewährleisten, dass chinesische Privatanleger, die Immobilien von Evergrande erworben oder in Vermögensverwaltungsprodukte des Unternehmens investiert haben, keine Verluste erleiden. Ebenso möchte Peking einen ungeordneten Zahlungsausfall vermeiden. Eine pauschale Rettungsaktion für alle Anleihengläubiger ist höchst unwahrscheinlich.

Ein Zahlungsausfall in einer Grössenordnung von 300 Milliarden US-Dollar mag gross genug für eine systemische Bankenkrise sein – dies ist hier aber keineswegs der Fall.

Carlos de Sousa, Strategist, Vontobel

Evergrande hat eine Vielzahl von Gläubigern und ist somit nicht übermässig von Banken abhängig. Die ausstehenden Kredite und Anleihen des Unternehmens werden auf etwa 571 bis 835 Milliarden RMB geschätzt (je nach Quelle und Definition der Schulden). Dies sind lediglich 0.35 bis 0.5 Prozent der Gesamtkredite der chinesischen Banken und 0.2 bis 0.3 Prozent des Gesamtvermögens. Darüber hinaus belaufen sich die ausstehenden internationalen Anleihen von Evergrande auf 19.2 Milliarden US-Dollar, was lediglich 1.9 Prozent der Benchmark-Immobilienanleihen Chinas im breit diversifizierten Corporate EM Bond Index (CEMBI) und nur 0.035 Prozent im Gesamt-CEMBI darstellt.

Im Gegensatz zu Lehman ist Evergrande kein Finanzinstitut – seine Hauptvermögenswerte sind Immobilien und keine Finanzinstrumente
Dies ist ein wichtiger Unterschied, da ein Preisverfall von finanziellen Vermögenswerten plötzlich eintreten und sich negativ auf die Bilanzen und die Bonität der Institute auswirken kann, die diese Vermögenswerte halten. Immobilienpreise entwickeln sich im Gegensatz zu Preisen von finanziellen Vermögenswerten in der Regel langsam – insbesondere in einem stark regulierten Markt wie China. Immobilienblasen können platzen und es ist zu Pleiten von Immobilienunternehmen gekommen, die Finanzkrisen ausgelöst haben. Der chinesische Immobiliensektor ist jedoch ein hybrides System, das nur teilweise von Marktkräften gesteuert wird. Die chinesische Regierung hat eine relativ strenge Kontrolle über die Immobilienpreise und die Regionalregierungen kontrollieren das Grundstücksangebot – und sogar die Nachfrage, da sie zuvor veräusserte Grundstücke zurückkaufen können. Die chinesische

Evergrande ist kein chinesischer Lehman-Fall.

Carlos de Sousa

Regierung will im Rahmen ihres übergeordneten Ziels einer Steigerung des «allgemeinen Wohlstandes» einen weiteren rasanten Anstieg der Immobilienpreise verhindern. Ein Einbruch der Immobilienpreise ist jedoch nicht erwünscht. Der Immobiliensektor und verwandte Sektoren machen knapp ein Viertel der chinesischen Wirtschaft aus, daher würde eine handfeste Immobilienkrise wesentliche politische Fehler implizieren, was sehr unwahrscheinlich erscheint.

Warum verfolgt China diese riskante Strategie?

Bislang waren Zahlungsausfälle bei Anleihen in China sehr selten, was zu der Erwartung geführt hat, die Regierung werde immer einschreiten, um dies zu verhindern. Wirtschaftswissenschaftler bezeichnen einen solchen Fehlschluss als «Moral Hazard»: Eine Reihe von Anreizen führt dazu, dass Anleger unverhältnismässige Risiken eingehen, da sie davon ausgehen, keine Verluste zu erleiden, falls die Risiken eintreten. Die Reduzierung des Moral Hazard könnte nicht nur zu einer effizienteren Allokation von Ressourcen führen, sondern vielleicht sogar zu einer besseren Finanzlage chinesischer Banken, da sie ihr Engagement im stark fremdfinanzierten Immobiliensektor weiter reduzieren werden.

Ein in Ungnade gefallener chinesischer Immobiliensektor birgt Chancen für aktive Anleger

Die Anleihen von Evergrande haben seit Ende Mai Kursverluste von über 66 Prozent verzeichnet und damit im gleichen Zeitraum Verluste von ca. 17 Prozent im chinesischen Immobiliensektor und von 11 Prozent im gesamten chinesischen Markt für Hochzinsanleihen ausgelöst. Es ist aus Sicht des Marktes sinnvoll, angesichts der Absicht der Regierung, den Moral Hazard zu reduzieren und die Emittenten von Unternehmensanleihen – insbesondere im Immobiliensektor – zu mehr Finanzdisziplin anzuhalten, ein höheres Ausfallrisiko einzupreisen. Jedoch werden derzeit zu viele Anleihen chinesischer High-Yield-Emittenten als Stressed und Distressed Credit gehandelt, darunter auch zahlreiche Emittenten, bei denen eine Umschuldung unwahrscheinlich ist. Wir sind der Auffassung, dass es zu einem nahezu willkürlichen Ausverkauf des chinesischen Hochzins-Segments gekommen ist, der viele ausgezeichnete Chancen für aktive Anleger bietet.

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