Geopolitik: Schweizer Unternehmen sind gefordert

Politische oder militärische Krisen, Handelsstreitigkeiten, Rohstoffkonflikte oder der Klimawandel: Geopolitische Entwicklungen sind für die Geschäftstätigkeit der meisten Schweizer Unternehmen zentral, wie der swissVR Monitor II/2022 zeigt. Trotzdem ergreifen nur wenige Verwaltungsräte umfassende Massnahmen, um die Risiken zu erfassen und Szenarien zu erarbeiten. Dabei wäre der Handlungsbedarf angesichts der aktuellen Weltlage gross: Die Mehrheit der 420 befragten Verwaltungsratsmitglieder schätzt die geopolitischen Risiken für ihr Unternehmen in den nächsten zwölf Monaten als hoch oder sehr hoch ein. Ein Drittel rechnet zudem für die Schweiz mit einer negativen Konjunkturentwicklung.

Die geopolitische Lage hat sich in den vergangenen Wochen und Monaten dramatisch verändert: Der Krieg in der Ukraine hat globale Folgen, die Rivalität zwischen China und den USA spitzt sich zu und die Rolle der Schweiz in Europa bleibt weiterhin ungeklärt. Auch die restriktiven Corona-Massnahmen in einzelnen Regionen Asiens und die weltweit hohe Inflation haben geopolitische Risiken verstärkt ins Blickfeld gerückt. Der aktuelle swissVR Monitor zeigt: Schweizer Verwaltungsräte befassen sich zwar mit geopolitischen Risiken, ergreifen aber nur wenige Massnahmen, um diese zu erfassen, zu beurteilen oder zu bewältigen. Die Befragung der Verwaltungsratsvereinigung swissVR, des Beratungsunternehmens Deloitte und der Hochschule Luzern misst Schweizer VR-Mitgliedern halbjährlich den Puls. Im Fokus der Ausgabe II/2022 stehen geopolitische Entwicklungen.

VR-Gremien rechnen in den nächsten zwölf Monaten mit hohen geopolitischen Risiken
Geopolitische Entwicklungen sind für die Schweizer Wirtschaft wegen der starken Exportorientierung und der damit einhergehenden Abhängigkeiten von internationalen Märkten grundsätzlich relevant. Die aktuellen Unsicherheiten verstärken die hohe Bedeutung tendenziell noch: 59 Prozent der befragten VR-Mitglieder schätzen die geopolitischen Risiken für das eigene Unternehmen in den nächsten zwölf Monaten als hoch oder sogar sehr hoch ein. Gleichzeitig trüben sich die Wirtschaftsaussichten ein: Rund ein Drittel der 420 Befragten rechnet für das kommende Jahr mit einer negativen Konjunkturentwicklung. Die grosse Mehrheit (93%) gibt an, dass ihr VR-Gremium grundsätzlich Massnahmen in Bezug auf geopolitische Risiken ergreift. Gut zwei Drittel der Verwaltungsräte (69%) diskutieren geopolitische Entwicklungen regelmässig und mehr als ein Drittel führt Szenarioanalysen durch (39%) oder nimmt Strategieanpassungen (35%) vor. Der Umstand, dass im Schnitt pro VR-Gremium lediglich zwei Massnahmen ergriffen werden, zeigt, dass viele Verwaltungsräte zwar wachsam sind und die geopolitischen Risiken im Auge behalten, jedoch angesichts der unsicheren Entwicklung nicht überreagieren bzw. die Planung von Massnahmen der Geschäftsleitung überlassen. «Wir erleben eine Zeitenwende – nicht nur in der Politik, sondern auch bei den Unternehmen. Die veränderten geopolitischen Realitäten erfordern in den Führungsetagen vieler Schweizer Unternehmen ein Umdenken. Die Politik muss bei strategischen Entscheidungen als neue zentrale Dimension zwingend mitberücksichtigt werden», sagt Reto Savoia, CEO Deloitte Schweiz.

Geopolitische Entwicklungen sind Herausforderung und Chance zugleich
Beinahe alle Unternehmen (98%) stehen angesichts der aktuellen geopolitischen Entwicklungen vor Herausforderungen: Am häufigsten genannt werden die Verfügbarkeit und die Kosten von Rohstoffen und Energie (50%) sowie der Unterbruch von Lieferketten (48%). Hingegen sehen drei Viertel der befragten VR-Mitglieder (77%) auch Chancen in geopolitischen Entwicklungen. Darunter fallen hauptsächlich Produkt- und Dienstleistungsinnovationen (34%) sowie eine höhere Kosten- und Prozesseffizienz (30%). Die zunehmenden Herausforderungen auf den globalen Märkten erfordern grösseres Engagement hinsichtlich geopolitischer Risiken. Christoph Lengwiler, Dozent an der Hochschule Luzern, mahnt jedoch, nicht in Aktionismus zu verfallen: «In Krisensituationen besteht die Gefahr, dass im Verwaltungsrat operative Hektik entsteht. Die strategische Steuerung sollte jedoch stets Priorität haben. Der VR muss in Szenarien denken, Handlungsoptionen evaluieren und Impulse geben. Konkrete Massnahmen sollen dann durch die Geschäftsleitung eingeleitet werden.»

Hälfte der Unternehmen vom Ukraine-Krieg direkt betroffen
Trotz regelmässigem Austausch über geopolitische Entwicklungen wurden sieben von zehn Verwaltungsräten (71%) vom Ausbruch des Kriegs in der Ukraine und dessen umfassenden wirtschaftlichen Folgen überrascht. Lediglich knapp ein Fünftel der befragten VR-Mitglieder (19%) gibt an, dass geopolitische Risiken in Osteuropa und im Zusammenhang mit Russland bei Risikoeinschätzungen im eigenen Verwaltungsrat in den letzten Jahren thematisiert wurden. Direkt vom diesjährigen Angriff Russlands auf die Ukraine betroffen ist laut Befragung rund die Hälfte der Unternehmen (48%). Der Krieg in der Ukraine zwang zahlreiche Unternehmen dazu, Position zu beziehen. Das dürfte künftig vermehrt nötig sein: «Unternehmen werden künftig verstärkt damit konfrontiert sein, sich positionieren zu müssen. Um eine Entscheidung für oder gegen einen Markt treffen zu können, sind tiefgreifende Analysen und strategische Entscheide durch den Verwaltungsrat notwendig», ist Cornelia Ritz Bossicard, Präsidentin swissVR, überzeugt.

Der vollständige «swissVR Monitor» findet sich hier.

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