US-Wirtschaft: Wachstumsdynamik ist wichtiger als Steuern

Die Fiskalpläne der USA und deren Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Finanzmärkte erfordern eine vertiefte Analyse. Sollten die Steuererhöhungen nämlich zu stark ausfallen, könnten Investoren mit Anlageverkäufen reagieren.

Ende März kündigte US-Präsident Joe Biden staatliche Ausgabenprogramme im Wert von fast USD 4 Bio. bzw. etwa 19% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) an. Dabei handelt es sich um den American Jobs Plan (AJP), ein Investitionsprogramm für Infrastruktur und grüne Energie von rund USD 2 Bio. und den American Families Plan (AFP), der mit weiteren USD 1.8 Bio. dotiert ist. Die Ankündigung kam nur kurz nachdem der Präsident zu Beginn desselben Monats ein USD 1.9 Bio. schweres Pandemiehilfegesetz unterzeichnet hatte. Abgesehen von der schwindelerregenden Summe an Steuerdollars unterscheiden sich die neuesten Ausgabenpläne jedoch stark vom COVID-19- Hilfsgesetz. Ihr Fokus liegt auf strukturellem Wachstum, nicht auf konjunktureller Unterstützung, und sie sollen theoretisch vollständig durch Steuererhöhungen finanziert sein statt durch Schulden.

Erst ausgeben, dann besteuern

Die aktuellen Pläne sehen vor, dass die Ausgaben über acht Jahre hinweg getätigt werden, während die verschiedenen Steuern über 15 Jahre hinweg eingenommen werden. Das Prinzip ist somit klar: Erst ausgeben, dann besteuern. Inzwischen sickerten weitere Details zum AFP durch. So scheint das Finanzministerium einen Teil des Pakets mit erhöhten Lohn- und Einkommenssteuerabgaben zulasten von wohlhabenden Personen im Umfang von USD 1.5 Bio. finanzieren zu wollen.

Wie erwartet, haben die Steuerpläne zu energischem Widerstand der Republikaner geführt. Dennoch hat zumindest das Infrastrukturgesetz eine hohe Chance, verabschiedet zu werden – auch ohne republikanische Unterstützung.

Mikio Kumada, Global Strategist, LGT Capital Partners

Erstens sind Infrastrukturausgaben bei den Wählern beliebt: Laut einer aktuellen VOX-Umfrage befürworten 74% eine Verbesserung der Infrastruktur. Zweitens sind sie vertretbar: Gemäss dem Global Competitiveness Report des Weltwirtschaftsforums rangiert die Qualität der US-Infrastruktur auf Platz 13 in der Welt, womit das Land deutlich hinter vielen fortgeschrittenen Volkswirtschaften zurückbleibt. Drittens, wie das Weisse Haus explizit festhält, ist das Vorhaben im Rahmen der Klimapolitik und des grösseren strategischen Wettbewerbs zwischen den USA und China zu sehen – ein Thema, welches zunehmend überparteilichen Konsens geniesst.

Aus praktischer Sicht ist eine Verabschiedung des Paketes jedenfalls relativ einfach: Mit dem «Budget Reconciliation»-Verfahren können die Demokraten das Paket nämlich mit einfacher Senatsmehrheit verabschieden (d.h. mit 50 statt 60 von 100 Senatsstimmen, plus Stichentscheid der Vizepräsidentin). Das ist möglich, sofern ein Gesetz den Staatshaushalt betrifft und längerfristig fiskalisch budgetneutral ausfällt. Die letztgenannte Bestimmung erlaubt aber Spielraum bezüglich Timing und Geldflussprognosen. Die Steuersenkungen von Ex-Präsident Donald Trump passierten übrigens nach demselben Verfahren. Nun könnten sich die Demokraten auf ein ökonomisches Konzept berufen, das als budgetneutraler Multiplikator bekannt ist. Dieses besagt, dass eine Erhöhung der Staatsausgaben nicht durch gleichzeitige Steuererhöhungen in gleicher nominaler Höhe ausgeglichen werden muss, um langfristig haushaltsneutral zu sein.

Der Nachteil des unilateralen Vorgehens gegenüber einem parteiübergreifenden Ansatz ist, dass es länger dauern dürfte (voraussichtlich bis Ende Jahr). Wir würden eine parteiübergreifende Vorlage daher nicht völlig ausschliessen. Am Ende des derzeitigen Diskussionsprozesses könnten Bestimmungen des Plans also doch noch aufgeweicht, geändert oder ganz gestrichen werden. So befürworten einige demokratische Senatoren eine geringere Erhöhung des Körperschaftssteuersatzes auf 25% anstelle von 28% und der vorgeschlagene globale Mindeststeuersatz wird sicher Gegenstand der anstehenden multilateralen Verhandlungen sein.

Ein globaler Mindeststeuersatz unter 21%
Ein Teil der Steuerpläne der Regierung Biden ist die Einführung eines globalen Mindeststeuersatzes für Unternehmen. Experten in OECD- und G20-Kreisen diskutieren diese Idee schon seit einiger Zeit, doch während der Trump-Administration fehlte es dafür an Impulsen. Der Grundgedanke dahinter ist, die internationale Gewinnverschiebung einzudämmen und die Steuererhebung zu verbessern. Damit würde ein Problem angegangen, das mit der Globalisierung und dem Konzept des immateriellen Kapitals entstanden ist. In der vorgeschlagenen Form könnten die Länder weiterhin einen beliebigen lokalen Unternehmenssteuersatz festlegen. Wenn sich aber multinationale Unternehmen in Ländern mit niedrigen Steuersätzen niederlassen, könnten ihre Heimatregierungen die Steuern auf das globale Minimum aufstocken. Die USA möchten diesen Steuersatz bei 21% festsetzen, was weit über den bisher diskutierten 12.5% liegt. Damit ist mit heftigem Widerstand der Niedrigsteuerländer zu rechnen. Für den Erfolg des Projekts ist es jedoch unabdingbar, so viele Länder wie möglich einzubeziehen. Dies, weil die wirtschaftlichen Vorteile einer vollständigen Unternehmensverlagerung in ein Land, das die Steuer nicht erhebt, zunehmen, je mehr Länder die Steuer anwenden. Es scheint daher wahrscheinlicher, dass man sich auf einen Steuersatz unter 21% einigen wird. Die Chance für einen ausreichenden Konsens bei der globalen Minimumsteuer ist heute besser als je zuvor. Der steuerpolitische Wind, der nun in den USA weht, ist auch in den meisten anderen OECD-Ländern zu spüren. Dennoch bleibt die Steuer ein grosser Wurf, da viele andere Aspekte ebenfalls gelöst werden müssen. In föderalen Ländern wie der Schweiz, Deutschland und auch den USA ergänzen beispielsweise lokale bzw. regionale Steuern die Abgaben der Zentralregierung. Versuche, die Steuererhebung zu harmonisieren, würden höchstwahrscheinlich zu innerstaatlichen Gegenreaktionen und/oder Umgehungen auf untergeordneten Ebenen führen. Letztlich stellt sich auch die Frage, wie wichtige Nichtmitgliedsländer, allen voran China, reagieren werden. Obwohl die Volksrepublik mit ihrem Körperschaftssteuersatz von 25% die Steuer grundsätzlich befürwortet, könnte Peking z.B. eine Senkung der US-Zölle als Gegenleistung fordern. Insbesondere auch, da ihr wichtigstes internationales Kapitalzentrum, Hongkong, im Tax Haven Index des Tax Justice Network unter den Top 10 rangiert. Insgesamt erwarten wir, dass inländische und internationale Steuermassnahmen einen Teil der zukünftigen US-Ausgaben- und Investitionspläne abdecken werden. Aber wir vermuten ebenfalls, dass die Ausgaben im Zweifelsfall doch zunehmend schuldenfinanziert werden.

Wirtschaftliche Auswirkungen: moderat höheres Potenzialwachstum

Nach der jüngsten COVID-Hilfspaketrunde dürfte sich die Produktionslücke in der US-Wirtschaft im Laufe dieses Jahres schliessen. Das heisst, die Differenz zwischen dem theoretischen vollen Leistungspotenzial und dem aktuellen Stand verschwindet. Daher ist es unwahrscheinlich, dass die bevorstehenden Infrastrukturausgaben einen hohen Multiplikatoreffekt auf das BIP haben werden. Sobald die Produktionslücke geschlossen ist, werden private Investitionen von den staatlichen nämlich eher verdrängt als ergänzt («Crowding Out»). Darüber hinaus haben einige Posten im Gesetzesentwurf wenig mit klassischen Infrastrukturausgaben zu tun (sie wirken eher wie Konsumausgaben) und dürften das Produktionspotenzial daher nicht tangieren. Basierend auf einer Vielzahl von Studien hebt ein Anstieg des öffentlichen Kapitalstocks um 1% das Niveau des langfristigen BIP typischerweise um etwa 0.1% an. Umgerechnet auf die USA könnte das potenzielle BIP nach Schätzungen der Finanzindustrie also um etwa 0.5 % steigen. In diesen Zahlen sind zudem sekundäre Effekte, die sich aus Fortschritten in Forschung und Entwicklung, verringerter Einkommensungleichheit oder von Umweltverbesserungen ergeben könnten, nicht berücksichtigt. Während solche angebotsseitigen Aspekte erst über Jahre zum Tragen kommen, dürften die Ausgaben die Nachfrage allerdings durchaus rasch stärken. Insgesamt wird der Wachstumseffekt also positiv ausfallen und den aktuellen US-Aufschwung zusätzlich stützen.

Wird dem Bullenmarkt der Boden unter den Füssen weggezogen?

Trotz der freundlichen Konjunkturkulisse zeigen sich viele Marktteilnehmer aufgrund der negativen Auswirkungen der Steuerpläne auf die Unternehmensgewinne besorgt. Diverse Schätzungen zeigen, dass die vollständige Umsetzung der vorgeschlagenen Erhöhungen die Gewinne im US-Aktienmarkt um 6% bis 9% reduzieren würde. Eine Überschlagsrechnung legt jedoch nahe, dass selbst bei diesen höheren Steuersätzen die Unternehmensgewinne 2022 immer noch im mittleren einstelligen Bereich wachsen würden, der starken Konjunktur sei Dank. Angesichts der Komplexität, die mit der internationalen Steuerpolitik verbunden ist, und wegen den bevorstehenden US-Zwischenwahlen 2022 wird der Kongress die Änderungen wahrscheinlich eher schrittweise als abrupt einführen. Die Auswirkungen auf die Gewinne könnten daher letztlich besser verdaulich sein.

Das Hauptproblem bleibt aber, dass die Marktbewertungen in einigen Bereichen bereits sehr hoch sind. Eine Verringerung der Gewinne, auch wenn sie nur geringfügig ist, würde diese ceteris paribus entweder noch weiter in die Höhe treiben oder eine Kurskorrektur hervorbeschwören. Unserer Ansicht nach könnte es daher zu einer Konsolidierung an den Märkten kommen, während dieses künftige Steuersystem in den Gewinndaten eingepreist wird. Der wichtigere Treiber für die Gewinne bleibt jedoch das längerfristige wirtschaftliche Wachstum und dessen Ausblick bleibt überzeugend. So ergibt die Summe aus COVID-19- und Infrastrukturausgaben immer noch einen netto expansiven Fiskalimpuls, selbst wenn die Steuern steigen. Wir erwarten daher nicht, dass höhere Steuern dem Bullenmarkt den Boden unter den Füssen wegziehen. Unter der Oberfläche dürfte es aber wohl zu Reibungen kommen. Steigende Steuern in den USA könnten zum Beispiel Anreize für Kapitalflüsse in Nicht-US-Aktien schaffen. Aber das Ausmass wird vom Erfolg der globalen Mindeststeuerinitiative abhängen. Auf sektoraler Ebene könnte der AJP die laufende Rotation in Marktsegmente, welche vom Abklingen der Pandemie profitieren, weiter forcieren: Sektoren wie Technologie oder Gesundheitswesen würden im Vergleich zu einigen anderen Sektoren, wie z. B. Energie, nämlich benachteiligt. Dennoch sollten die steuerlichen Änderungen alleine nicht die Anlagepräferenzen auf mittlere bis längere Sicht bestimmen. Der Energiesektor beispielsweise könnte zwar von den Steueränderungen profitieren, würde aber trotzdem weiterhin mit anderen Gegenwinden konfrontiert sein, z. B. der Notwendigkeit, den CO2-Abdruck von Portfolios zu reduzieren. Umgekehrt dürften die meisten Tech-Unternehmen trotz höheren Steuern und/oder verstärkten Regulierungsbestrebungen weiterhin schnell wachsen. Saisonale Volatilität könnte auch ein Thema sein: Der Vorschlag, die Kapitalertragssteuer zu erhöhen, könnte zu vorübergehenden Verkäufen vor dem Inkrafttreten führen. Zugleich könnten die Unternehmen als Reaktion darauf von Aktienrückkäufen auf höhere Dividendenausschüttungen umstellen, was den Effekt mildern würde.

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