Börsenprognosen: Hören Sie nicht auf Punxsutawney Phil
Alle Jahre wieder wird zum Ende die imaginäre Kristallkugel ausgepackt: Wo stehen die grossen Aktienindizes in zwölf Monaten? Was machen der Goldpreis, die Ölnotierungen und der Euro im Vergleich zum US-Dollar? (Fast) alle Anleger wollen das wissen – warum nur?
Mit Börsenprognosen ist es ein wenig so wie mit Punxsutawney Phil, dem weltbekannten Murmeltier. Im Februar soll Phil den Menschen im US-Bundestaat Pennsylvania (und allen anderen) vorhersagen, wie das Wetter in den kommenden Monaten wohl werden wird. Tausende Schaulustige säumen dann den «Gobbler’s Knob» nahe der Ortschaft Punxsutawney, um zu sehen, wie das Murmeltier aus seinem Bau geholt wird – von Männern in schwarzen Mänteln, mit Zylindern auf dem Kopf. Sieht Phil seinen eigenen Schatten, dann ist für weitere sechs Wochen Winter. Sieht er ihn nicht, kommt bald der Frühling. Im Hintergrund spielt die Blaskapelle.
Ölpreis, wohin gehst du?
An der Börse ist es gewöhnlich der Dezember, in dessen Verlauf geklärt werden soll, wie die kommenden Monate, das kommende Kalenderjahr, wohl laufen werden. Heerscharen von Analysten geben dann den Phil und der Öffentlichkeit preis, was die Kapitalmärkte in naher Zukunft erwarten wird – wohin die grossen Aktienindizes tendieren, der Zins, die Rohstoffpreise und Währungen. Es wird punktgenau prognostiziert. Die Finanzmedien lieben den Prognosezirkus und die vermeintliche Präzision der Vorhersagen, auf die Kommastelle genau – weil die Leser es auch tun. Ich denke mir dann immer: Es wird an der Börse so viel über Dinge fabuliert, die wir nicht wissen (können), statt das in den Fokus zu nehmen, was uns – aus Investorensicht – bekannt ist. Dass wir essen und trinken müssen beispielsweise. Grosse Tabellen prangen auf den Zeitungseiten. Wer prognostiziert was, und aus welchen Gründen. Die alljährlichen Vorschauen sind, das sollten wir nicht unterschätzen, wie eine Prise Gewissheit in einer chronisch ungewissen Börsenwelt. Sie geben Halt und Orientierung. Zumindest ist das die Wahrnehmung des Publikums. Denn das Vertrauen in die Analysefähigkeiten ist gross. Wie könnten all die Experten, die ja den ganzen lieben langen Tag nichts anderes tun, als sich mit Kapitalmarktthemen zu beschäftigen, irren?
Stephan Fritz, Portfolio Director, Flossbach von StorchWie könnten all die Experten, die ja den ganzen lieben langen Tag nichts anderes tun, als sich mit Kapitalmarktthemen zu beschäftigen, irren?
Was alles passieren kann
Sie tun es, so viel steht fest. Niemand weiss, was in den kommenden Monaten sein wird. Woher auch? Es kann so viel passieren. Ein Vulkan kann beispielsweise ausbrechen – und den Warenverkehr in der Luft für Wochen beeinträchtigen. Ein Tsunami könnte grössere Küstenabschnitte unter sich begraben und die Produktion dringend benötigter Techkomponenten empfindlich beeinträchtigen. Womöglich steht ein grosser Finanzkonzern kurz vor dem Kollaps – nur hat das niemand kommen sehen (können), weil der wahre Zustand vom Topmanagement mit schier unglaublicher krimineller Energie verschleiert wurde. Katastrophen kündigen sich selten an. Es könnte auch einfach nichts passieren. Und wenn alle nur das Schlechteste erwarten, ist eben das «Nichts» das Beste, was passieren kann – und die Kurse steigen, obwohl (oder weil) zuvor alle vom Gegenteil ausgegangen sind. Und selbst wenn die Prognosegeber bestimmte Ereignisse kommen sehen, aus welchen Gründen auch immer, muss das noch lange nicht heissen, dass ihnen damit geholfen ist. Das Jahr 2016 ist unser Lieblings-Beispiel: Wenn Sie gewusst hätten, dass das Vereinigte Königreich nicht länger in der EU sein will und ein Typ wie Donald Trump US-Präsident werden würde, hätten Sie womöglich sämtliche Aktien verkauft – oder alles abgesichert! Sie kennen das Ende der Geschichte: Die Aktienindizes sind in den nachfolgenden Monaten von einem Hoch zum nächsten geklettert – trotz Brexit, trotz Trump. Den allermeisten Prognosegebern dürfte auch klar sein, dass der Wert ihrer Prognosen – drücken wir es möglichst freundlich aus – begrenzt ist. Sie machen mit, weil sie dafür bezahlt werden. Weil es ihr Umfeld von ihnen verlangt. Also, was tun?
Ein Realist mit Erfahrung
Letztlich hat der Vorhersager zwei Möglichkeiten der Herleitung, hier exemplarisch an der allseits beliebten Börsenindexprognose dokumentiert: «Wo steht der MSCI World Index Ende 2024?»
Möglichkeit eins, die defensive Strategie: Der Analyst nimmt die historische Wertentwicklung, also die durchschnittliche jährliche Rendite der vergangenen Jahrzehnte, und schlägt sie einfach auf den aktuellen Punktestand drauf – oder zieht sie ab, je nachdem, wie er die derzeitige Börsenstimmung wahrnimmt. Er wird damit nicht weiter auffallen, weil es ihm viele gleichtun. Dabei sein ist alles – Kompetenz signalisieren. Das war’s.
Möglichkeit zwei ist deutlich offensiver: Dem Prognosegeber geht es dabei um maximale Aufmerksamkeit. Die bekommt er, indem er möglichst weit vom Mittelwert abweicht, beispielsweise einen Crash vorhersagt – 20, vielleicht auch 30 Prozent geht es in den kommenden Monaten bergab. Bei all den Risikofaktoren ... kann nur krachen! Oder er ruft die Rally aus, schreit also die Kurse nach oben.
In der Praxis wird lieber nach unten abgewichen vom Mittelwert, zumindest ist das mein Eindruck. Lieber Untergangsprophet sein, denn als unbedarfter Optimist gelten. Ersterer ist deutlich besser beleumundet beim Publikum, Typ Mahner, ein – wie heisst die Definition des Wortes «Pessimist» so wohltuend klar – Realist mit Erfahrung. Letztendlich ist all das Folklore. Nicht weniger, vor allem nicht mehr. Nehmen Sie es hin, erfreuen Sie sich daran, wenn Sie können, aber richten Sie bitte niemals Ihre Anlagestrategie danach aus! Genauso wenig tun es die Landwirte in Pennsylvania, ganz gleich, ob Phil seinen Schatten gesehen hat oder nicht. Nach Angaben der US-Klimabehörde NOAA hat er in den vergangenen zehn Jahren übrigens nur in vier von zehn Fällen richtig gelegen mit seiner Wetterprognose. Trotzdem kommen jedes Jahr Tausende nach Punxsutawney.
Und die Blaskappelle spielt.