Europa nimmt den Fuss vom Gas
Seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sind die Energiemärkte im Ausnahmezustand: Gas- und Strompreise im Grosshandel haben sich vervielfacht.
Im August wurden an der Strombörse in Leipzig kurzfristige Termingeschäfte zwischenzeitlich zum 20-Fachen des langjährigen Durchschnittspreises gehandelt. Preise für Erdgas haben im August ebenfalls Höchststände erreicht. Die Spitze der Preisentwicklung wurde jüngst gebrochen, da die Europäischen Gaslager mittlerweile gut gefüllt sind. Von einer Entspannung kann jedoch keinesfalls die Rede sein: Die Schweizer Regierung ergreift Notmassnahmen für Stromfirmen und ruft zum Energie- sparen auf. Andere Länder versuchen, mit neuen Abkommen die weltweit zweitgrössten Gasreserven im Iran zu erschliessen.
Thomas Rühl, Chief Investment Officer, Schwyzer KantonalbankDie Strompreis-Regulierung schützt Endverbraucher zwar vor den extremen Exzessen an den Grosshandelsmärkten, dennoch fallen die Rechnungen im Schweizer Durchschnitt 27% höher aus.
Da der hierzulande produzierte Strom weitgehend unabhängig von Gas und anderen fossilen Brennstoffen entsteht, ist die Schweiz der Preisentwicklung etwas weniger stark ausgesetzt. Gleichzeitig ist es ungewiss, ob im Winter – wie üblich – zusätzlicher Strom zugekauft werden kann: In Frankreich sind zahlreiche Kernkraftwerke wegen Schäden und tiefer Flusspegelstände ausser Betrieb, Deutschland dürfte Gasexporte erschweren. Schweizer Haushalte sorgen sich um die Verfügbarkeit im Winter und die zusätzlichen Stromkosten. Die Strompreis-Regulierung schützt Endverbraucher zwar vor den extremen Exzessen an den Grosshandelsmärkten, dennoch fallen die Rechnungen im Schweizer Durchschnitt 27% höher aus. Im Kanton Schwyz steigen die Preise durchschnittlich um 16%, in einzelnen Gemeinden allerdings deutlich stärker.
Strom und Gas sind der Ausgangspunkt vieler Wertschöpfungsketten. Anleger sollten dies in ihren Anlageentscheiden beachten. Beispielsweise sind Hersteller von Keramikprodukten und die Chemieindustrie stark vom Gas abhängig; Metallproduzenten dagegen stark von Strom. Ohne eine Entspannung der Energiepreise wird ein Klumpenrisiko im Portfolio zu einer Unterrendite führen. Diese Erkenntnis haben wir auch bei den Anlageentscheidungen für die SZKB-Portfolios berücksichtigt.
Auch wenn die meisten Lösungen zu spät für den nächsten Winter kommen, hat Europa für die Zukunft wenig Alternativen zu alternativen Energien: Kernkraft ist nur bedingt mehrheitsfähig; der politische und logistische Zugang zum iranischen Gas ist höchst unsicher; Braunkohle ist höchst klimaschädlich. Private Initiativen und ein Subventions-Eldorado für Solar-, Wind- und Wasserkraft zeichnen sich bereits ab. Auch aus Anlegersicht werden die entsprechenden Technologien an Attraktivität gewinnen. Aber im Moment gilt: Vorsorgen, Vorbereiten, Brennstofflager füllen und auf einen warmen Winter oder eine Friedenslösung hoffen.