Halbjahresausblick: Aufschwung mit kurzfristigem Inflationsschub

Ein wesentlicher Faktor für unsere Beurteilung des gesamtwirtschaftlichen Umfelds sind die enormen Stimulusmassnahmen, mit denen Regierungen und Zentralbanken auf die Krise reagiert haben. Die regional unterschiedlich hoch ausgefallenen Ausgaben lassen jedoch auch eine unterschiedliche Wachstumsdynamik erwarten.

Im Zuge der Wachstumserholung und höheren Inflation nach dem Ende der pandemiebedingten Lockdowns dürften die Anleiherenditen steigen. Durch ihre Umstellung auf eine flexible Steuerung der Inflation rund um ein durchschnittliches Inflationsziel werde sich die US-Notenbank jedoch vermutlich mit Zinserhöhungen zurückhalten. Das sollte den Renditeanstieg begrenzen und die Erholungsphase verlängern. Gleichzeitig dürfte der US-Dollar dadurch kurzfristig unter Druck stehen, wovon Rohstoffe profitieren sollten.

Nach ihrer erfolgreichen Impfkampagne dürften die USA die weltweite Wachstumserholung anführen, während das Wachstum in China etwas an Dynamik verliert. Grossbritannien und die Eurozone werden der Erholung in den USA voraussichtlich rasch folgen, die Schwellenländer aufgrund ihrer schleppenderen Impffortschritte mit grösserer Verzögerung. Angesichts der Art dieser Krise und der Treiber dieses Aufschwungs – hochwirksame Impfstoffe, Nachholbedarf, erhöhte private Ersparnisse in mehreren Ländern, eine sehr akkommodierende Geldpolitik und erhebliche fiskalische Anreize – sollten letztlich alle Länder vom Aufschwung erfasst werden, wenn auch zeitlich versetzt.

Nach ihrer erfolgreichen Impfkampagne dürften die USA die weltweite Wachstumserholung anführen, während das Wachstum in China etwas an Dynamik verliert.

Henning Stein, Global Head of Thought Leadership, Invesco

Wir rechnen überdies mit einem Rückgang der Marktvolatilität in allen Anlageklassen und einer Outperformance zyklischerer Regionen, Branchen und Anlagestile. Die fiskal- und geldpolitischen Stimulusmassnahmen werden weiter für gute Unterstützung von Risikoanlagen sorgen und damit auch für eine Outperformance von Aktien gegenüber Anleihen. Im Aktienbereich bevorzugen wir Nebenwerte und Value-Titel, da unser Makro-Modell eine Outperformance der Faktoren «Size» und «Value» in Erholungsphasen signalisiert. Vor dem Hintergrund des weltweiten Aufschwungs, lockerer Finanzierungsbedingungen und eines schwächeren Dollars dürften Schwellenländeraktien grösstenteils besser abschneiden als Industrieländeraktien.

Von Kreditanlagen und Hochzinsanleihen wird eine bessere Performance erwartet als von Staatsanleihen. Die Fundamentaldaten sind positiv und stützen US-amerikanische und europäische Hochzinsanleihen. Die Spreads sind jedoch bereits extrem eng. Das begrenzt das Potenzial für eine weitere Spreadverengung und erhöht das Risiko einer möglichen Spreadausweitung. Bank Loans werden durch starke Kreditfundamentaldaten gestützt und könnten dank ihrer variablen Verzinsung von steigenden Zinsen profitieren.

In unserem Basisszenario halten wir viele Private-Market-Strategien für gut aufgestellt, um von der weltweiten Wiedereröffnung der Wirtschaft zu profitieren. Durch Covid-bedingte Marktverwerfungen entstehen weiterhin interessante Anlagemöglichkeiten in ausgewählten Teilklassen des Private-Market-Universums, wie zum Beispiel in bestimmten Immobiliensektoren und bei Infrastrukturanlagen. Im Falle eines globalen Inflationsanstiegs bevorzugen wir variabel verzinsliche Privatkredite sowie Sachwerte mit häufig inflationsgeschützten Erträgen bevorzugen.

Die «Tail Risks» – die Extremrisiken – erachten wir aktuell grösser und greifbarer als in den meisten vergangenen Aufschwungphasen. Die beiden wesentlichen Risiken, die unserem Ausblick entgegenstehen könnten, sind einerseits ein erneutes Aufflammen der Pandemie mit Virusmutationen, gegen die die verfügbaren Impfstoffe keinen ausreichenden Schutz bieten, was eine vollständige Wiedereröffnung der Wirtschaft verhindern könnte, und andererseits eine hohe Inflation als Folge geldpolitischer Massnahmen. Eine Ausbreitung widerstandsfähigerer Virusmutanten hätte zwar negative Auswirkungen auf das globale Wachstum. Diese wäre aber nicht annähernd so dramatisch wie in der ersten COVID-19-Welle, da die Volkswirtschaften gelernt haben, mit Lockdowns und anderen Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu leben. Viele Aktivitäten sind ins Internet verlagert worden und bei vielen Dienstleistungen steht die vollständige Wiedereröffnung noch aus. Anstelle eines erneuten Einbruchs der Wirtschaft dürfte es nur zu einer Verlangsamung des Aufschwungs kommen, was vermutlich zusätzliche Unterstützung durch die Geld- und Fiskalpolitik erforderlich machen würde. Aufgrund ihrer weniger gut ausgebauten Gesundheitsinfrastruktur und ihrer niedrigeren Impfquoten wären die Schwellenländer wahrscheinlich am stärksten betroffen.

In einem Szenario eines starken wirtschaftlichen Aufschwungs mit einem nachhaltigeren Anstieg der Inflation dürfte die Fed zunächst verzögert reagieren und bewusst «hinter der Kurve» bleiben. Wenn die Inflation deutlich über die Zielwerte der Zentralbanken hinausschiessen sollte, würden sich die Fed und andere Zentralbanken jedoch gezwungen sehen, die Geldpolitik aggressiver zu straffen, als von den Märkten derzeit erwartet wird. Dies würde das Wachstum bremsen und auch die Kapitalmärkte in Mitleidenschaft ziehen.

Henning Stein von Invesco bevorzugt im Aktienbereich Nebenwerte und Value-Titel.
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