Inflation zwischen Wahrnehmung und Wirklichkeit

Statistisch nüchtern wird die Inflation mit der von staatlichen Ämtern berechneten Inflationsrate festgehalten. Gefühlt wird sie durch Preiserhöhungen von Produkten und Dienstleistungen, wobei die Wahrnehmung subjektiv ist und oft überzeichnet wird. Sie ist unfair, da sie die einen stärker belastet als die anderen. Aber sie bewegt die Stimmung in der Wirtschaft und an den Finanzmärkten.

In den USA rätselt man, warum die von Donald Trump verhängten Strafzölle die Inflation nicht stärker steigen lassen. In der Schweiz provoziert der Preisrückgang von 0.3% im Oktober Rufe nach Negativzinsen durch die SNB. Die Inflationsentwicklung in den USA zeigt, dass die Inflation keine einfache Dreisatzrechnung ist. Zölle von X% gleich Inflation von Y%, das funktioniert nicht. Die amerikanische Inflationsrate wird durch die Preise für Dienstleistungen dominiert. Diese machen 61% der Berechnung aus. Der Preisdruck in diesem Bereich ist mit einem Preisanstieg von rund 3.5% konstant hoch und hält die Inflationsrate im Bereich von 3%. Von den Zöllen sind die Dienstleistungen aber nur am Rande und indirekt betroffen. Entscheidend sind die Löhne der Angestellten. Der Lohndruck nimmt auf einem hohen Niveau ab, was angesichts der sich abschwächenden Wirtschaft normal ist.

Die Gefahr eines starken Anstiegs der Inflationsrate ist gering, ebenso die Gefahr eines nachhaltigen Falls in die Deflation.

Thomas Stucki, Chief Investment Officer, St.Galler Kantonalbank

Die Kerngüter machen in der Inflationsberechnung nur 18% aus. Deren Preise sind durch die Zölle stärker betroffen und nehmen seit ein paar Monaten zu, nachdem die zuvor eingekauften Lager aufgebraucht sind. Stark steigen die Preise der Lebensmittel, welche ein Gewicht von 13% haben. Deren Einfluss auf die Gefühlslage ist deutlich stärker als auf die Inflationsrate. Insgesamt dürfte sich der treibende Einfluss der Zölle und der dämpfende Einfluss des geringeren Lohndrucks ausgleichen. Die Inflationsrate in den USA wird über der von der Fed angestrebten Marke von 2% verharren, aber nicht in einem Ausmass ansteigen, welches eine starke Reaktion der Fed benötigt.

Trend ist entscheidend, nicht einzelne Zahlen
Die Preise in der Schweiz sind im Oktober im Monatsvergleich um 0.3% gesunken. Saisonale Effekte wie Ferien, Ausverkauf oder ähnliches haben auf die Monatswerte einen erheblichen Einfluss. Wichtiger für die Beurteilung des Inflationsdruckes sind deshalb die mittelfristigen Trends. Die tieferen Energiepreise drücken die Inflationsrate nach unten, jedoch abnehmend. Auf der anderen Seite wird der inflationäre Druck steigender Mieten auch kleiner. Generell ist die Inflationslage in der Schweiz ähnlich wie in den anderen Ländern. Die Preise für Dienstleistungen steigen, während die Güterpreise sinken. In der Schweiz kommt hinzu, dass die Währung über die Preise der Importgüter eine wichtige Rolle spielt. Per Saldo zeigt sich ein konstanter Preisdruck auf tiefem Niveau. Die Gefahr eines starken Anstiegs der Inflationsrate ist gering, ebenso die Gefahr eines nachhaltigen Falls in die Deflation. Die Inflationsrate wird sich weiterhin im Bereich knapp über 0% bewegen. Für die SNB ist das ein angenehmes Inflationsumfeld.

Geringer Einfluss auf die Finanzmärkte
Ich will die Inflation nicht verharmlosen. Hohe oder stark negative Inflationsraten lösen wirtschaftliche, soziale und politische Prozesse aus, die schwer zu kontrollieren sind. Deshalb ist es richtig, dass für die Zentralbanken die Gewährung der Preisstabilität ein zentrales Ziel ihrer Geldpolitik ist. Die Feinsteuerung der Inflation ist aber nicht möglich, weshalb die Zinspolitik auf den Trend der Inflation auszurichten ist. Momentan zeigt sich diesbezüglich weder in den USA noch in der Schweiz eine Entwicklung, die eine starke Reaktion wie 2009 nach der Finanzkrise oder beim Inflationsschub von 2022 notwendig macht. Solange sich daran nichts ändert, werden die Inflationsdaten an den Finanzmärkten nur kurzfristige Bewegungen provozieren.

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