Pleiten, Pech und Pannen

Den drei P’s gehört meine Aufmerksamkeit; ja sogar Hingabe. Meine Masterarbeit habe ich zu den Krisen der Aktienmärkte geschrieben. Zu unserem bis ins Letzte durchgeplanten und durchgestylten Leben wollen Pleiten, Pech und Pannen einfach nicht so richtig passen. Seit es Facebook und Co gibt, hat zudem die Selbstdarstellung noch mehr zugenommen und dort ist kein Platz für die unvorteilhaften Geschehnisse im Leben. Nach aussen pflegen wir das Bild, alles im Griff zu haben und die Wendungen des Lebens souverän zu meistern. Entlarvend wohltuend sind daher die Pleiten und Pannen. Sie machen uns menschlich und beinhalten nicht selten eine stille Komik.

Vor Kurzem wurde ich wieder reich beschenkt. Die Meldung hatte Sprengkraft. Nachdem am Wahlsonntag und in den beiden darauffolgenden Tagen die Ergebnisse der Schweizer Parlamentswahlen Land rauf und Land runter analysiert worden waren, platzte am Mittwoch nach dem Wahlsonntag die Bombe. Das Bundesamt für Statistik (BFS) hatte sich verrechnet und die Parteistärken falsch ausgewiesen. Unzählige Stunden Analyse im Wahlstudio des Bundeshauses, massenweise Interviews mit strahlenden Siegern und etwas zerknirschten Verlierern sowie rauchende Köpfe von Journalisten, die sich die Finger wund schrieben – und plötzlich war alles anders. Na ja, nicht ganz alles, im Endeffekt war die Sitzverteilung nicht betroffen, auch kein Parlamentarier fälschlicherweise gewählt, einzig das Wahlresultat etwas weniger spektakulär. Als hätte man einem Luftballon die Luft rausgelassen. Mit dem entdeckten Fehler stimmte das Narrativ des Wahlsonntags nicht mehr. Der Rechtsrutsch, der bereits am Wahltag mit jeder neuen Hochrechnung zu einem Rechtsrütschli degradiert wurde, ist jetzt nochmals zurückgestutzt worden. Die Flaute der Grünen ist jetzt etwas weniger flau. Und die Mitte hatte die FDP eben nicht überholt. Gerhard Pfister erklärte noch am Wahlsonntag, dass die Mittepartei den Bundesratssitz der FDP nicht angreifen werde. Was dem Parteipräsidenten der Mitte von gewissen Protagonisten noch als Mangel an Ambitionen ausgelegt wurde, entpuppte sich drei Tage später als weise Voraussicht. Seine Position wäre mehr als unglücklich gewesen, hätte er aufgrund der falschen Ergebnisse vom Wahlsonntag zum Sturmangriff auf den Konkurrenten rechts der Mitte geblasen. Ein solcher Frontalangriff wäre nach der Korrektur und der Rückstufung der Mitte knapp hinter die FDP vollends schief in der Landschaft gestanden.

Als die Nachricht am Mittwoch wie ein Lauffeuer durch die Schweiz ging, war mir als langjährigem Leiter diverser Researchabteilungen augenblicklich bewusst, welche Tragweite die Pannenmeldung hatte. Selbst auch schon konfrontiert gewesen mit der Situation, dass in der eigenen Analyseabteilung Fehler passiert waren, kenne ich den nun folgenden Akt nur zu gut. Für die Medien war der Fehler natürlich ein gefundenes Fressen. Von historischer Wahlpanne war die Rede, von kolossaler Fehlleistung bei den wichtigsten Zahlen der Legislatur. Das BFS wurde hämisch als Bundesamt für Rechenfehler bezeichnet. Wer den Schaden hat, muss für den Spott nicht sorgen. In der Tat ist ein solcher Fehler eine Peinlichkeit ersten Grades, eine Blamage sondergleichen. Es sind die Momente, die einen im Traum verfolgen. Als Chef der fehlerverursachenden Behörde möchte man in einer solchen Situation am liebsten im Boden versinken. Doch dazu ist in einer solchen Situation keine Zeit. Es gilt, ausfindig zu machen, was schief gelaufen ist, und den Schaden einzugrenzen.

In einer Sache verdient das Bundesamt für Statistik beziehungsweise dessen Leiter Georges-Simon Ulrich aber Respekt. Der BFS-Direktor ist sofort hingestanden und hat den Fehler ohne Wenn und Aber eingestanden.

Fredy Hasenmaile, Raiffeisen-Chefökonom

Abstimmungsfehler passieren auch andernorts. Jüngst in Deutschland und in Österreich. Im September 2021 endete die Wahl ins Abgeordnetenhaus in Berlin im Chaos. Falsch sortierte Wahlunterlagen, fehlende Stimmzettel, zu wenig Wahlurnen, Auszählungs- und Übertragungsfehler, die zu Wahlbeteiligungen von weit über 100 Prozent in einzelnen Berliner Wahlbezirken führten, sowie Wahllokale, die noch geöffnet waren als bereits erste Resultate eintrafen. Schlussendlich erklärte der Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin die Wahlen wegen massiver Unregelmässigkeiten für ungültig und diese mussten im Februar 2022 wiederholt werden. In Österreich ist bei der Wahl zum SPÖ-Vorsitzenden durch einen Auszählungsfehler gar der falsche Kandidat zum Sieger gekürt worden. Bloss 48 Stunden durfte sich der Sieger als neuer Vorsitzender und künftiger Kanzlerkandidat feiern lassen, dann wurde ihm mitgeteilt, dass nicht er, sondern sein Konkurrent gewonnen hatte. Der Fehler wurde nur per Zufall bemerkt, weil wegen einer fehlenden Stimme eine Neuauszählung nötig wurde. Die Ursache lag in einer falschen Übertragung in eine Exceltabelle. Die Stimmen für die bei- den Kandidaten wurden schlicht und einfach vertauscht.

Auch beim Bundesamt für Statistik spielten Exceltabellen eine Rolle beim jüngsten Fehler. Die beiden Appenzell und Glarus lieferten die Zahlen korrekt in einer Exceldatei. Beim Bundesamt für Statistik wurden die Wahlresultate der drei Kantone jedoch falsch zusammengezählt. Aufgrund eines Programmierfehlers wurden die Daten mehrfach eingelesen. Trotz zweier Testläufe im Mai und September mit Pseudodaten fiel niemandem auf, dass zum Beispiel in Glarus die Resultate von 15 Gemeinden in die zentrale Datenbank geschrieben wurden, obwohl es in Glarus nur 3 Gemeinden gibt. Die Mehrfachzählung der Gemeinden dieser drei Kantone verfälschten dann auch am Wahlsonntag die nationalen Ergebnisse, ohne dass dies zunächst jemandem auffiel. Wahlergebnisse der 28 Gemeinden der drei Kantone korrekt in eine Datenbank zu schreiben, sollte keine so schwierige Aufgabe sein und – was gravierender ist – liesse sich eigentlich aufgrund der überschaubaren Grössenordnung verhältnismässig einfach sogar manuell kontrollieren. Die Panne darf daher nicht einfach mit dem Verweis auf einen Programmierfehler abgetan werden. Offensichtlich existierten keine Kontrollen oder diese erwiesen sich als wirkungslos.

In einer Sache verdient das Bundesamt für Statistik beziehungsweise dessen Leiter Georges-Simon Ulrich aber Respekt. Der BFS-Direktor ist sofort hingestanden und hat den Fehler ohne Wenn und Aber eingestanden. Die Medienkonferenz war ein Lehrbeispiel, wie man mit Fehlern umgehen muss. Es war alles da: Entschuldigung, Transparenz, detaillierte Information, Werben um Verständnis, Zerknirschtheit, Einsteckvermögen. Er hat bereitwillig Rede und Antwort gestanden und dabei die richtigen Worte gefunden. Gegen den Spott hat er sich nicht verteidigt, sondern diesen sportlich als den zu zahlenden Preis eingesteckt. Mit seiner professionellen, direkten und nahbaren Stellungnahme an der eigens einberufenen Medienkonferenz ist es dem Amtschef Ulrich gelungen, der Geschichte ein Ende zu setzen, und damit all denjenigen, die auf eine Fortsetzung gehofft hatten, den Wind aus den Segeln zu nehmen. Es blieben schlicht keine Fragen offen. Entsprechend rasch ist die Panne dann auch aus den Medien und der Öffentlichkeit verschwunden.

Welche Lehren gilt es aus dem Fall zu ziehen? Der Chef muss rasch reagieren, Verantwortung übernehmen und hinstehen. Beim Einsatz von Maschinen sind Kontrollen unabdingbar. Die Kontrollkultur ist beim BFS vorhanden, allerdings scheint diese zu einer Alibiübung verkommen zu sein. Potenzial gibt es demnach bei der Kontrollintelligenz. Fehler passieren, deswegen ist den Kontrollprozessen hohe Aufmerksamkeit zu schenken. Im Speziellen das Einlesen von Daten ist eine heikle Schnittstelle, der man nicht genügend Aufmerksamkeit schenken kann. Das Austesten des fehlerhaften Programms mit alten Daten und Wahlergebnissen hätte den Programmierfehler zu Tage befördert. Es gilt zudem auch Fehldiagnosen zu vermeiden. Rasch wurde die Panne dem Datenföderalismus in die Schuhe geschoben. Dass die Wahlresultate dezentral ausgewertet und bereitgestellt werden, ist jedoch kein Nachteil. Im Gegenteil liefert diese Struktur eine gewisse Garantie, dass Fehler nicht zu gross werden können, weil nicht nur eine Behörde die Resultate berechnet.

Und noch etwas Positives. Der Fehler wurde letztlich gefunden und gemeldet. Das sollte unser Grundvertrauen in die Schweizer Demokratie stärken. Es bleibt ein kleiner Wermutstropfen. Lehren uns solche Beispiele nicht auch, dass wohl nicht jeder Fehler gefunden und gemeldet wird? Dieser hier wurde erst spät entdeckt. Was ist mit denjenigen Fehlern, die wir nicht bemerkt haben? Wie viele Wahlkommentare waren wohl in der Vergangenheit auch schon falsch? Gab es vielleicht schon Nationalräte, die im Parlament sassen, obwohl sie vielleicht gar nicht gewählt wurden? Scheinparlamentarier quasi? Jeder, der auf dem letzten Listenplatz mit nur wenig Abstand zum nächsten Widersacher ins Parlament gerutscht ist, muss sich diese Frage stellen. Hätte vielleicht schon der Bundesrat anders ausgesehen ... Nein, ich will hier stoppen. Sind wir uns einfach bewusst: Der Zufall regiert auch anderswo im Leben mit, weshalb sollte es hier anders sein.

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