Die Börsenschlacht um GameStop wirft weitreichende Fragen auf
Wie ehrenwert der Grund auch sein mag: Praktiken, die eine völlige Entkopplung zwischen dem Aktienkurs eines Unternehmens und dessen zugrunde liegendem Wert bewirken, werfen die Frage auf, wie sehr Kleinanleger dem Aktienmarkt vertrauen können. Eine Wall-Street-Version von David gegen Goliath.
Der berühmte biblische Kampf kommt einem sofort in den Sinn, wenn man sich die Börsenschlacht um GameStop vom Januar ansieht. Allerdings waren die Waffen diesmal keine Steinschleudern, sondern Online-Handelsplattformen und komplexe Finanzinstrumente.
Kleinanleger schlossen sich in einem Online-Handelsforum zusammen und schafften es in einem medienwirksamen Konflikt, einigen US-Hedgefonds die Stirn zu bieten. Es ging um GameStop, einen börsennotierten Videospielhändler, der mit dem Rücken zur Wand stand. Diese auf den ersten Blick unbedeutende Armee von Kleinanlegern hatte scheinbar die Oberhand gewonnen. Sie bedienten sich dabei der gleichen Finanzinstrumente wie selbst die spitzfindigsten Hedgefonds und der gleichen Informationen wie institutionelle Anleger.
Börsenkrimi wirft ernsthafte Fragen über zweideutige Motive an den Börsen auf
Zunächst einmal war der Konflikt im Januar zum Teil das Ergebnis der heute extrem niedrigen Zinsen. Diese laden förmlich dazu ein, Anlagen mit geliehenen Mitteln zu einem Zinssatz zu kaufen, der geringer ist als der erwartete Gewinn – also einen Hebel einzusetzen. Wie sich herausstellte, waren die Hedgefonds des Januar-Krimis enorm gehebelt. Als erkannt wurde, welch grossem Risiko sie damit ausgesetzt waren, wurde dies zu ihrer Achillesferse. Dieses Ereignis könnte die Regulierungsbehörden der Leitmärkte dazu veranlassen, die aktuellen Regelungen in diesem Bereich genauer unter die Lupe zu nehmen.
Didier Saint-Georges, Mitglied des Strategic Investment Committee, Carmignac Praktiken, die eine völlige Entkopplung zwischen dem Aktienkurs eines Unternehmens und dessen zugrunde liegendem Wert bewirken, werfen die Frage auf, wie sehr Kleinanleger dem Aktienmarkt vertrauen können.
Ausserdem ging die Sache nicht für alle Kleinanleger gut aus. Diejenigen, die zu den ersten gehörten, die GameStop-Aktien kauften und sie dann rasch abstiessen, haben schnelles Geld verdient. Aber diejenigen, die erst später eingestiegen sind, werden höchstwahrscheinlich das Nachsehen haben. Denn der von ihnen bezahlte Preis übersteigt den inneren Wert des Unternehmens bei Weitem.
Diese Diskrepanz zwischen dem Aktienkurs eines Unternehmens und dem zugrunde liegenden Wert ist der springende Punkt. Anleger sollten zunächst versuchen, den Wert eines Unternehmens abzuschätzen, indem sie dessen Geschäftspotenzial analysieren und bewerten. Sie kaufen oder verkaufen dann die Aktien des Unternehmens, wenn sie sehen, dass der Marktpreis zu sehr von ihrer Einschätzung abweicht. Aus diesem Grund sind Short-Positionen (also Leih-und-Verkauf-Positionen) keineswegs per se weniger ehrenwert als Long-Positionen (also Kauf-und-Halte-Positionen). Beide tragen dazu bei, die Aktienkurse näher an ihren «wahren» Wert zu bringen. Doch neben dieser Hauptmethode haben sich auch spekulativere Praktiken entwickelt – wenngleich kein Grund besteht, Spekulation mit fragwürdigen Moralstandards zu verbinden. Beim Spekulieren wird lediglich darauf gewettet, in welche Richtung sich ein Aktienkurs entwickelt, unabhängig vom geschätzten Wert.
Der Zweck einer Anlage am Aktienmarkt
Das Tauziehen an den Aktienmärkten im Januar war also eine Konfrontation zwischen zwei spekulativen Bewegungen. Die Hedgefonds wetteten darauf, dass der Aktienkurs von GameStop angesichts des wackeligen Zustands des Unternehmens abstürzen würde. Die Kleinanleger setzten auf das Gegenteil – unabhängig vom zugrunde liegenden Wert des Unternehmens. Dabei handelten sie eher aus politischen als aus wirtschaftlichen Gründen.
Dass die ausdrücklich verbotene und dennoch praktizierte Manipulation von Wertpapierkursen ein Problem darstellt, ist unbestritten. Die entscheidende Frage hier ist aber, was der primäre Zweck von Anlagen am Aktienmarkt sein sollte. Wie ehrenwert der Grund auch sein mag: Praktiken, die eine völlige Entkopplung zwischen dem Aktienkurs eines Unternehmens und dessen zugrunde liegendem Wert bewirken, werfen die Frage auf, wie sehr Kleinanleger dem Aktienmarkt vertrauen können.
Ähnliches lässt sich auch über den jüngsten Boom beim passiven Investieren sagen. Per Definition kaufen dabei passive Fondsmanager einfach Aktien auf der Grundlage deren Gewichtung in einem bestimmten Marktindex. Unberücksichtigt bleibt jedoch der innere Wert der Unternehmen, die diese Aktien ausgegeben haben. Die teuersten Aktien – also die mit der stärksten Gewichtung im Index – sind automatisch die, die am meisten gekauft werden. Dadurch werden sie in der Folge noch teurer. Passiv verwalteten Fonds kommt an den heutigen Märkten eine grosse Bedeutung zu. Aus diesem Grund sind sie eine viel grössere Risikoquelle für die Finanzmärkte als irgendwelche Kreuzzüge aktivistischer Kleinanleger.