Energiehunger von KI: Wann ist mehr zu viel?

KI-Algorithmen fressen immer mehr Strom. Für die moralische Bewertung macht es sich unser Gehirn leicht: Vielverbraucher sind böse, energiesparende Unternehmen gut. Doch der Teufel steckt im Detail.

«KI liess Googles CO2-Ausstoss um 50% steigen»: Schlagzeilen dieser Art kursierten Anfang Juli um Google, nachdem das Unternehmen seinen Nachhaltigkeitsbericht für das Jahr 2023 vorgelegt hatte. Auch Microsofts veröffentlichter CO2-Report zeigte starke Anstiege. Dabei hatten sich die Tech-Grössen schon vor Jahren ambitionierte Klimaziele gesetzt: Sie wollen bis zum Jahr 2030 «net-zero» bzw. «carbon-negative» sein.

Klar ist, KI ist ein wesentlicher Grund für den Anstieg des Energieverbrauchs, denn das Trainieren der Algorithmen und Abrufen der Ergebnisse benötigt signifikante Rechenkapazitäten und damit sehr viel Strom.

Theresa Eyerund, Research Analystin, Flossbach von Storch AG

Entsprechend gross ist die Empörung über die vermeintlichen Klimasünder. Das ist nachvollziehbar. Schliesslich müssen wir die Treibhausgasemissionen deutlich reduzieren. Die Aufregung lässt jedoch einige wesentliche Details von Treibhausgasbilanzen ausser Acht und umschifft die eigentliche Frage: Wann ist mehr zu viel?

Der Teufel (oder Engel) steckt im Detail
Schlagzeilen fassen im Idealfall den wesentlichen Inhalt eines Artikels zusammen. Leider werden sie aber in einer von Informationsüberfluss geprägten Welt nicht selten auch vom Leser für eine schnelle Meinungsbildung genutzt. Unser Gehirn sucht standardmässig nach einer eindeutigen Bewertung und bevorzugt – auch für moralische Urteile – gerne Abkürzungen. Im Fall von Energie und Treibhausgasen heisst es dann also schnell: «Mehr ist schlecht, vor allem wenn man vorher gesagt hat, man will weniger». In vielen Fällen führt diese Abkürzung sicher zu einer einfachen und zuverlässigen Einschätzung. Einige wesentliche Aspekte, die ein differenzierteres Urteil ermöglichen würden, werden dabei aber übergangen. Zum Beispiel die Frage: Was steckt eigentlich konkret hinter dem ausgewiesenen 50-Prozent-Emissionswachstum von Google? Gehen wir doch die Schlagzeile der Reihe nach durch.

«KI liess …»
Klar ist, KI ist ein wesentlicher Grund für den Anstieg des Energieverbrauchs, denn das Trainieren der Algorithmen und Abrufen der Ergebnisse benötigt signifikante Rechenkapazitäten und damit sehr viel Strom. Der Anstieg wird aber auch von anderen Faktoren getrieben, etwa immer mehr Kunden, die ihre Daten und Prozesse raus aus ihren eigenen lokalen Servern in die globale Google-Cloud migrieren. Schlecht für die Treibhausgasbilanz von Google, weil dadurch die Werte steigen. Ein positiver Effekt ist aber, dass die Nutzung von meist ineffizienteren Servern dadurch sinkt. Um ein Bewusstsein für diesen Effekt zu schaffen, geben Tech-Unternehmen Schätzungen heraus, wie viel weniger Strom ihre Cloud im Vergleich zu klassischen Unternehmensservern verbraucht. Eine globale Bilanz, in der solche CO2-Verschiebungen sichtbar würden, gibt es allerdings nicht. So wird derjenige, der die Emissionen auf der Bilanz hat, dafür verantwortlich gemacht – auch wenn unterm Strich ja Emissionen reduziert werden. Ein weiterer Faktor ist die Methodik. So entstehen Treibhausgasbilanzen durch eine Mischung unterschiedlicher Methoden und Hochrechnungen. Das «Greenhouse Gas Protocol» ist das meistgenutzte Regelwerk zu Bilanzierungsdetails und Anrechnungsmöglichkeiten erneuerbarer Energie. Unternehmen bekommen zwar anteilig die Emissionen angerechnet, die bei der Erzeugung des regionalen Strommix beim Anbieter entstehen, auch wenn sie den gar nicht beeinflussen können. Es gibt aber verschiedene Instrumente, erneuerbare Energie zu kaufen und damit die Emissionen rechnerisch zu reduzieren, da Solar-, Wind- oder Wasserkraft CO2-frei sind. Die Vorschriften des GHG-Protocol erlauben jedoch die Anrechnung von erneuerbaren Energiezertifikaten nur unter bestimmten Umständen. Zum Beispiel, wenn sie in der geografischen Region des Verbrauchs entstehen, die erneuerbare Energie also in der Nähe der Verbrauchsstelle produziert wurde. Da Google in den USA und der Region Asien-Pazifik Schwierigkeiten hat, mehr erneuerbare Energie zu beziehen, kauft das Unternehmen in anderen Regionen mehr Zertifikate als es dort verbraucht, um diese auf die Regionen ohne Bezugsmöglichkeit anzurechnen. Dadurch soll auch der Ausbau erneuerbarer Energiekapazitäten gefördert werden. Von den Emissionen durch Stromverbrauch abgezogen werden darf aber nur der Anteil, der tatsächlich vor Ort bezogen wurde. So kommt es, dass die Höhe der Emissionen auch von technischen Details und Definitionen abhängt.

Statt einfach nur «KI liess...» könnte die differenzierte Schlagzeile also auch so beginnen: «Wachstum, höherer Stromverbrauch, Veränderungen und Vorschriften in der Treibhausgas-Bilanzierung, erneuerbare Energie Knappheit usw. liessen…»

«…Googles CO2-Ausstoss…»
«Der CO2-Ausstoss» eines Unternehmens kann unterschiedlich weit gefasst sein. Treibhausgasbilanzen bestehen üblicherweise aus drei Kategorien: Sogenannte Scope-1-Emissionen sind solche, die direkt durch Unternehmensaktivitäten entstehen, wie zum Beispiel durch das Verbrennen von Benzin, Öl oder Gas oder durch flüchtige Gase aus Kühlsystemen. Scope-2-Emissionen entstehen bei der Produktion von Strom, Fernwärme, Dampf usw., die das Unternehmen bei Energieversorgern einkauft. Und Scope-3-Emissionen sind Emissionen, die in der vor- und nachgelagerten Wertschöpfungskette, also zum Beispiel bei den Produzenten von PCs und Servern oder zum Transport der Waren durch Speditionen entstehen. Typischerweise bewerten Menschen den moralischen Wert von direkten und indirekten Handlungen unterschiedlich. Der Verantwortungs- und Wirkungsbereich sollte daher als Information mit einbezogen werden. Übertragen auf unsere Schlagzeile könnte man «... Googles CO2-Ausstoss» ergänzen zu: «…vor allem Googles Strom-bezogenen CO2-Ausstoss, sowie den der vorgelagerten Wertschöpfungskette.» Googles Reduktionsziele beziehen sich auf die Summe aller drei Scopes. Das ist bereits ein hohes Ambitionsniveau, da viele Unternehmen ihre Ziele nur auf die selbst-beeinflussbaren Kategorien Scope 1 und Scope 2 beschränken. Scope 3 ist bei vielen Unternehmen (die nicht gerade in höchstem Masse selbst energieintensiv sind wie die Stahlproduktion) der höchste Anteil der Treibhausgasbilanz und gilt häufig als am schwersten zu reduzieren, da kein direkter Einfluss besteht. Bei Google sind vor allem die Scope-2-Emissionen gestiegen, also die, die durch den Stromverbrauch bei Versorgern entstehen. Innerhalb von Scope 3 sind sie für eingekaufte Güter gestiegen, worunter neben den voran genannten auch mit der Energieproduktion zusammenhängende Emissionen wie z.B. Netzübertragungsverluste fallen.

«…um 50 Prozent steigen»
Das Basisjahr macht den Unterschied: Google hat sich 2021 das Ziel gesetzt, seinen Treibhausgasausstoss bis 2030 gegenüber 2019 um 50 Prozent zu reduzieren. Somit wird die Entwicklung immer gegenüber dem Jahr 2019 betrachtet, unabhängig davon, was in den Zwischenjahren passiert. Google und Microsoft haben in den vergangenen Jahren jedoch vermehrt neue Datenzentren gebaut und ihre Kapazitäten erweitert. Sie haben auch deutlich mehr Aktivitäten durchgeführt – sind also gewachsen. Liegt das gewählte Vergleichsjahr vor einer Wachstumsphase, wird die Reduktion schwieriger, als zu einem späteren Zeitpunkt im Lebenszyklus eines Unternehmens. Eine Frage, die sich auf die Schlagzeile daher direkt anschliessen sollte ist: 50 Prozent gestiegen, im Vergleich zu wann?

Meistens wird ein Jahr als Basisjahr gewählt, für das bereits Daten vorliegen und das zum Zeitpunkt der Zielsetzung nicht weit zurückliegt. Dies kann dazu führen, dass Unternehmen, die nach der Zielsetzung stark gewachsen sind, weniger «Fortschritt» zeigen als solche, die ihre Ziele nach einer Wachstumsphase festgelegt haben. Würde Google zum Beispiel das Jahr 2021 als Basisjahr wählen, wäre 2023 ein Anstieg der Gesamtemissionen um 33 Prozent zu verzeichnen, verglichen mit einem «nur» 13-prozentigen Anstieg gegenüber dem Vorjahr 2022. Die Entwicklung sollte daher immer auch im grösseren Kontext betrachtet werden - die Schlagzeile ergänzt hiesse dann: «…um 50 Prozent gegenüber dem Jahr 2019 steigen».

Wann ist mehr zu viel? Und: Wie wird’s wieder weniger?
Eine genauere Betrachtung der Umstände kann also helfen, ohne die kognitive Abkürzung zu einer differenzierteren Einschätzung zu gelangen. Anstelle der eingangs beschriebenen Schlagzeile ergibt sich dann der Satz: «Wachstum, höherer Stromverbrauch, Veränderungen und Vorschriften in der Treibhausgas-Bilanzierung, erneuerbare Energie Knappheit usw. liessen vor allem Googles Strom-bezogene CO2-Emissionen, sowie die der vorgelagerten Wertschöpfungskette um 50 Prozent gegenüber dem Jahr 2019 steigen». Der Satz hilft aber nicht unbedingt für die vom Gehirn so geschätzte Eindeutigkeit bei der Frage «Wann ist mehr zu viel»? Dafür wäre ein noch viel grösserer Kontext, der unser auf Wachstum basiertes Wirtschaftsmodell oder den Nutzen von KI für die Gesellschaft hinterfragt und diskutiert, notwendig. Stellt man zunächst die Frage, wie Unternehmen wie Microsoft und Google zumindest wieder in die Richtung ihrer ursprünglich gesetzten Ziele – sofern sie daran festhalten – kommen könnten, sind mehrere Wege denkbar: Blieben alle anderen Faktoren gleich, könnten wesentliche Emissionsreduktionen durch weniger Stromverbrauch also auch weniger Aktivitäten gelingen. Doch ein blosser Verzicht auf die Nutzung energieintensiver KI, der die Bilanz besser aussehen lässt, ist nicht nur unrealistisch, er würde vermutlich auch wichtige Fortschritte für andere Branchen in Sachen Klimainnovationen und Effizienz verhindern oder verzögern, bei der KI zukünftig helfen kann. Auch Energieeffizienzmassnahmen sind eine wichtige Stellschraube, die in Zukunft für Big-Tech weiter eine Rolle spielen wird. Die Energieeffizienz von Googles Datenzentren, insbesondere der Neueren, ist bereits hoch. Die im Nachhaltigkeitsbericht veröffentlichten Effizienzkennzahlen zeigen, insbesondere im Vergleich zu kleineren und älteren Datenzentren, grosse Unterschiede. Neue Technologien und Effizienzfortschritte durch KI können diese – insbesondere bei der Überholung älterer Standorte – noch zusätzlich steigern.

Neben physischer Reduktion ist auch eine rechnerische Reduktion denkbar. Sollten sich die Bilanzierungsmethoden zukünftig verändern und erneuerbare Energien anders angerechnet werden können, könnte die Treibhausgasbilanz vieler Unternehmen, nicht nur die der Techs, anders aussehen. Entsprechend wären auch die Entwicklungsbetrachtungen anders oder – sofern keine rückwirkende Anpassung vorgenommen wird – gar nicht mehr möglich. Das GHG Protocol soll in den kommenden zwei Jahren überarbeitet werden. Wie die neuen Richtlinien aussehen werden, ist aber noch völlig offen. Sollte die Verfügbarkeit von erneuerbarer bzw. emissionsfreier Energie global steigen und der Netzum- und ausbau entsprechend grosse Fortschritte machen, könnte der höhere Stromverbrauch auch erneuerbarer, anrechenbarer Energie gegenübergestellt werden. Für die Tech-Unternehmen ist erneuerbare Energie seit Jahren ihre dominante Klimastrategie. Sie stösst allerdings, während sie anfangs erfolgreich war, angesichts des hohen Anstiegs des Bedarfs aktuell an ihre Grenzen. Durch die hohe Nachfrage und Projekte der Tech-Unternehmen wird zwar das Wachstum erneuerbarer Energien stark gefördert, der neu entstandene emissionsfreie Strom wird aber vielfach auch direkt wieder selbst abgegrast.

Wachstum verpflichtet
Während ein moralisches Fazit also nicht vorschnell gezogen werden sollte, befreit die Komplexität der Lage die energiefressenden Unternehmen nicht von ihrer Verantwortung. Die Glaubwürdigkeit von Google, Microsoft und Co. wird sich zukünftig daran messen lassen müssen, wie sie angesichts der jüngsten Entwicklungen ihre Klimastrategien anpassen und mit welcher Ambition sie ihre Effizienz- und Energiemassnahmen weiter voranbringen. Ein positives Signal, an dem sich auch andere orientieren sollten, ist der von Google angekündigte Fokus auf tatsächliche Reduktionen anstelle von Offsetting durch CO2-Zertifikate, die die Bilanz vermeintlich «neutralisieren». Eingängige Claims, wie «klimaneutral seit 2007» (was Google jetzt nicht mehr ist) oder carbon-negative (was Microsoft im Jahr 2030 sein will), signalisierten vor einigen Jahren noch die Avant-Garde in Sachen Umweltfreundlichkeit. Die Qualitätsansprüche an Klimamassnahmen und die Erkenntnisse, wie Unternehmen am besten zum Klimaschutz beitragen, haben sich aber in den letzten Jahren stark verändert. Entsprechend ist es aus unserer Sicht ein Zeichen von Transparenz und Glaubwürdigkeit, seine Klimastrategien anzupassen und Zielsetzungen zu überarbeiten. Vorausgesetzt sie weisen ein hohes Ambitionsniveau aus und orientieren sich an gängigen Qualitätskriterien. Die kommenden Nachhaltigkeitsberichte sollten daher nicht nur ambitionierte Zwischenziele anstelle von langfristigen Net-Zero Claims ausweisen, sondern ebenso einen erkennbaren Anstieg an zusätzlicher erneuerbarer Energie und gestiegene Effizienz der Datenzentren.

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