Eine Überdosis Schutz oder wie zahlreiche Bestimmungen den Wohnungsbau verunmöglichen
Kann es ein Zuviel an Schutz geben? Einige Ritter des Spätmittelalters würden dies wohl bejahen. Die meist 30 bis 50 Kilogramm schweren Rüstungen machten ihre Träger zwar deutlich sicherer, aber auch unbeweglicher und schneller müde. Trotz der Schutzwirkung gegen Pfeile und Schwerthiebe dürften diese Einschränkungen manchen Kampf zuungunsten der Ritter entschieden haben. Dies konnte sogar Schlachten entscheiden. So etwa die verlorene Schlacht von Azincourt, als schwer gerüstete französische Ritter im Jahr 1415 gegen leichtere englische Bogenschützen kämpften. Der schwere Boden des Schlachtgeländes hatte der Überlieferung nach auch dazu beigetragen, dass sich die überlegenen, aber schweren Rüstungen des französischen Ritterheeres in einen Nachteil verwandelten.
Wegen zu viel Schutz drohen wir auch heute eine Schlacht zu verlieren. Und zwar im Kampf um eine ausreichende Versorgung mit Wohnraum. Seit Jahren vermag die Bautätigkeit die Wohnungsnachfrage nicht zu befriedigen. Im Jahr 2023 erhielten nur gerade 33’532 Wohnungen eine Baubewilligung, 27 Prozent weniger als im Schnitt der letzten 20 Jahre. Eine zentrale Ursache sind die vielen Bestimmungen zu Denkmalschutz, Heimatschutz, Landschaftsschutz, Ortsbildschutz, Lärmschutz, Umweltschutz und bald auch noch Schutz für die Biodiversität. Diese Schutzbestimmungen haben unbestreitbar wichtige Funktionen: Sie sollen den Charakter von Städten und Dörfern, die Natur und das kulturelle Erbe der Schweiz bewahren sowie die Bewohner vor Lärm schützen. Allerdings führen überzogene Schutzbestimmungen sowie der Missbrauch dieser Regelungen durch fragwürdige Einsprachen – oft von Einzelpersonen oder Interessengruppen – dazu, dass dringend benötigter Wohnraum massiv verzögert oder sogar gänzlich verhindert wird. Allein in der Stadt Zürich ist aktuell der Bau von 3’000 Wohnungen aufgrund des Lärmschutzgesetzes blockiert.
Fredy Hasenmaile, Raiffeisen-ChefökonomWegen zu viel Schutz drohen wir auch heute eine Schlacht zu verlieren. Und zwar im Kampf um eine ausreichende Versorgung mit Wohnraum.
Der Lärmschutz ist ein gutes Beispiel dafür, wie sich ein an und für sich nachvollziehbarer Schutzgedanke zur Blockade ausweiten kann. Das Bundesgericht hatte 2016 eine zuvor breit angewandte Lüftungsfensterpraxis für bundesrechtswidrig erklärt. Gemäss dem Gericht genügte es nicht mehr, dass lärmempfindliche Räume über mindestens ein Fenster verfügten, an dem die Lärmgrenzwerte einzuhalten waren, sondern alle Fenster mussten von nun an die Immissionsgrenzwerte erfüllen. Zwar wollte das Bundesgericht die raumplanerischen Interessen an einer Innenverdichtung auch berücksichtigen, setzte die dafür nötige Hürde für Ausnahmebewilligungen jedoch so hoch an, dass nur selten Ausnahmen bewilligt werden. Will ein Bauherr eine Ausnahme, muss er nachweisen, dass alle zumutbaren Lärmschutzmassnahmen ergriffen wurden. Je nach Fall kann das kleine Wort «alle» für einen Bauherrn sehr kostspielig werden und es erhöht die Rechtsunsicherheit.
Wenn Parlament oder Volk über eine Schutzbestimmung abstimmen, ist deren Tragweite oftmals nicht bekannt. Jeder Schutz hat jedoch seinen Preis. Im Unterschied zu einer Versicherungspolice ist der Preis bei der Einführung einer neuen Schutzbestimmung aber zumeist noch nicht bekannt. Erst viel später werden die Folgen der neuen Bestimmungen klarer. So beispielsweise auch beim Ortsbildschutz. Dieser ist im Natur- und Heimatschutzgesetz (NHG) geregelt. Gemäss Artikel 5 dieses Gesetzes erstellt der Bundesrat Inventare von Objekten von nationaler Bedeutung, das sogenannte ISOS-Inventar. Dagegen ist nichts einzuwenden. Weshalb aber heute 75 Prozent des Zürcher Stadtgebietes im ISOS-Inventar erfasst sind, dürfte wohl nicht mal der Bundesrat schlüssig erklären können. Dabei war es der Bundesrat, der 2016 das ISOS-Inventar für die Stadt Zürich festsetzte. Und dies, obwohl zwei Jahre zuvor der Baudirektor des Kantons Zürich interveniert und auf drohende Konflikte bei der Verdichtung hingewiesen hatte. Zürich wurde beruhigt mit dem Hinweis, die Inventarisierung sei nicht gleichbedeutend mit einer Schutzverfügung, sondern liefere bloss eine Verhandlungsgrundlage. Das war offensichtlich falsch, denn im Juni 2024 hat der Zürcher Stadtrat Odermatt eine Medienkonferenz abgehalten und den planungsrechtlichen Notstand ausgerufen. Gesetze sind eben nicht in Stein gemeisselt, sondern führen ein Eigenleben. Findige Anwälte haben, um Bauprojekte zu bekämpfen, einen Paragrafen im Natur- und Heimatschutzgesetz gefunden, der die direkte Anwendung von ISOS für einen Grossteil der rund 4’000 Stadtzürcher Baugesuche ermöglicht, und Gerichte stützen dieses Vorgehen. Wie beim Lärm verselbständigt sich auch hier die Rechtsprechung. Das bedeutet nun konkret, dass die allermeisten Baugesuche zuerst vom Kanton geprüft und später Kommissionen auf Bundesebene zur Beurteilung vorgelegt werden müssen, bei denen nicht mehr lokale Interessen wie z.B. die Verdichtung im Vordergrund stehen, sondern denkmalpflegerische. Im besten Fall sorgt das für Verzögerungen und höhere Kosten, im schlechtesten Fall muss das Bauprojekt nochmals völlig neu ausgearbeitet werden. Faktisch entsprechen damit eben doch grosse Teile des ISOS-Inventars einer Schutzverfügung und die eigentliche verfassungsrechtliche Zuständigkeit des Kantons für den Natur- und Heimatschutz wird ad absurdum geführt.
Fredy HasenmaileIm Jahr 2023 erhielten nur gerade 33’532 Wohnungen eine Baubewilligung, 27 Prozent weniger als im Schnitt der letzten 20 Jahre. Eine zentrale Ursache sind die vielen Bestimmungen zu Denkmalschutz, Heimatschutz, Landschaftsschutz, Ortsbildschutz, Lärmschutz, Umweltschutz und bald auch noch Schutz für die Biodiversität.
Investoren sprechen derzeit von einer totalen Rechtsunsicherheit bei Bauvorhaben in der Stadt Zürich. In Schwamendingen kann zum Beispiel die ASIG-Wohngenossenschaft ein Projekt mit rund 1’000 Wohnungen vorerst nicht bauen – trotz 15 Jahren Planung und gültigem Gestaltungsplan. Offensichtlich wird man die Geister, die man gerufen hat, nicht mehr so rasch los. Auch nicht mit Medienkonferenzen. Die ISOS-Problematik betrifft dabei jede Gemeinde und nicht nur die Stadt Zürich. Auf der Strecke bleibt die Wohnraumversorgung der Bevölkerung, die keinen gesetzlichen Schutz hat. Leidtragende sind die Mieter. Denn die Wohnungsknappheit drückt unweigerlich die Mieten in die Höhe. Die Angebotspreise steigen in der Schweiz derzeit um rund 6 Prozent. In der Stadt Zürich hat sich eine Mietwohnung in den letzten drei Jahren um 26 Prozent verteuert.
Der ISOS-Übergriff dürfte ziemlich sicher über kurz oder lang korrigiert werden. Doch das wird Jahre dauern. Besser wäre es, künftig Gesetze und Verfassungsbestimmungen viel penibler dahingehend zu prüfen, welchen Schaden sie langfristig anrichten können. Die nächste Gelegenheit ergibt sich am 22. September bei der Abstimmung über die Biodiversitätsinitiative. Lesen Sie den Initiativtext genau. Dann werden Sie feststellen, dass es nicht nur um Biodiversität geht, wie viele Stimmbürger glauben. Der Initiativtext verlangt unter Ziffer 1a und 1b im neuen Artikel 78a der Bundesverfassung die Bewahrung von Ortsbildern und die Schonung von baukulturellem Erbe. Die nächste Blockade durch die Hintertür?