Vollkasksozeitalter

Wir reichen und reifen Industrieländer sind längst schon angekommen in der heilen Welt, in der es im Grunde keine makroökonomischen Risiken mehr gibt. Zumindest nicht solche, die wir als gefährdend oder gar als existenzbedrohend empfinden.

1987 erfuhr die Geldpolitik eine praktische Aufwertung, in dem der damalige US-Notenbankchef Alan Greenspan den Börsencrash einfach mit einer Liquiditätsausweitung in nie zuvor gesehenem Ausmass wegspülte, was ihm grossen Applaus bescherte. Mit der Globalisierung wurden gleichzeitig neue Wachstumspotenziale freigeschaufelt und mit ihr gewann der Neoliberalismus endgültig Oberwasser. Der Markt – so die Doktrin – wird es schon richten und wenn es mal schief geht, ist die Geldpolitik am ehesten in der Lage, rasch wieder ein neues Gleichgewicht herbeizuführen. Vor allem namhafte US-Ökonomen haben sich auf diese Doktrin eingeschworen. Sie sind nicht selten eher mit der Wall Street verbunden als mit der reinen Lehre, wage ich zu behaupten. Die Finanzkrise und deren «Bewältigung» stützt diese Behauptung und Mario Draghi machte die «Geldpolitik kann alles-Doktrin» mit seinem «Whatever it takes» auch in der Eurozone salonfähig. Die SNB hängte sich ebenso an diesen Tropf und ist seitdem im selben Dilemma gefangen wie alle grossen Zentralbanken. Sobald sich eine Straffung des geldpolitischen Kurses am fernen Horizont auch nur schwach erkennbar abzeichnet, reagieren die Finanzmärkte verschnupft und zwingen die Geldhüter zu übervorsichtigem Handeln, manchmal gar zur Abkehr von ihrem geplanten Kurs.

Die Politik des Klotzens funktioniert.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

Kein Wunder also, dass man die nun aufkeimende Inflation als vorübergehendes Phänomen einschätzt, ausgelöst durch eine Kumulation von Sondereffekten, die sich schon bald wieder verflüchtigen werden, so dass eine Straffung der geldpolitischen Zügel erst gar nicht angezeigt scheint. Hiess es nicht, als es um die Rettung des Euros ging, besondere Zeiten brauchten besondere Massnahmen? Dies scheint indes nur zu gelten, solange die Massnahmen die Börse nicht vergraulen und dem Volk den Spass nicht rauben. Diese makroökonomische Vollkaskoversicherung sollte nicht weiter zur Gewohnheit werden, denn vielleicht erodiert der Versicherungsschutz ja doch einmal? Was also, wenn die Inflation davon galoppiert und die Geldhüter das (weiter) verschlafen? Nun, in Europa bekommen wir schon einen ersten Eindruck davon, wie die Vollkaskopolitik das löst. In Frankreich will die Regierung die teuren Spritpreise, unter denen das Volk so leidet, deckeln, indem der Staat auf Steuereinnahmen in Milliardenhöhe verzichtet. In Deutschland schlägt Bauministerin Klara Geywitz (SPD) vor, Wohngeldbeziehern einen einmaligen Heizkostenzuschuss zu gewähren. Wer weiss, ob – sollte das «vorübergehend» doch länger dauern – nicht sogar die Mehrwertsteuer wieder gesenkt werden? Klimaziele sind schliesslich nicht die höchste Priorität, zuvorderst geht es um Kaufkraftsicherung der Wählerschaft und Ruhe. Man will auf keinen Fall, dass die Leute wie in Kasachstan auf die Strasse gehen, wenn die Inflation zur Geissel wird. Dabei ist das Konzept doch sonnenklar. Nicht die Symptome, die Ursachen sind zu bekämpfen. Wenn die Preise zu stark sinken, muss die Liquidität erhöht werden, im Umkehrschluss aber auch abgesaugt werden, wenn sie zu stark steigen. Die EZB müsste folglich längst schon aktiv werden. Auf ihre Inflationsprognose ist sowieso kein Verlass, zu oft schon lag die in der Vergangenheit weit daneben. Die US-Notenbank macht wenigstens ein bisschen Ernst, wahrscheinlich sogar schon im Frühjahr, aber ob die und die erwarteten weiteren Zinserhöhungen insgesamt reichen, um der Inflation in den USA wieder Herr zu werden, kann bezweifelt werden.

In der Türkei ist die Geldpolitik währenddessen tatenlos, dies aber nicht aus nonchalanter Coolness, sondern auf Geheiss des unbelehrbaren Präsidenten Erdogan. Und die Inflation ist daher längst aus dem Ruder gelaufen. Fleisch oder Öl sind mittlerweile Luxusgüter, die Währung ist im freien Fall. Die türkische Lira wertete in einem Jahr um 90% ab und die Konsumentenpreise stiegen im selben Zeitraum um über ein Drittel. Der selbstgefällige Präsident hat dagegen kein Mittel und ist sich nicht einmal mehr zu schade, die reichen Scheichs anzubetteln. Denn auch wenn die Exporte – dank der massiven Abwertung – massiv steigen, spürt der einfache türkische Haushalt davon wenig bis nichts. Und wer weiss? Vielleicht stolpert der jahrelang populäre Alleinherrscher tatsächlich über die Inflation. Seine Popularität ist so tief wie nie und seine Position geschwächt. Aber die Türkei gehört ja auch nicht zum Euroraum, das Baltikum aber schon. In Litauen und Estland war die Jahresteuerung im Dezember zweistellig. Im Euroraum-Mittel lag sie aber nur bei 5%, in Frankreich sogar gerade mal bei 3.4%. Die Geldpolitik ist aber für alle gleich, zögerlich. Ob das gut geht? Klar, schliesslich haben wir ja einen Vollkaskoschutz. Sämtliche Schäden sind gedeckt. «Whatever it takes».

Hauptbildnachweis: Playmobil