Gewalt macht arm
In meiner Kindheit und Jugend ging ich im Sommer fast jeden Tag zum See schwimmen und vor allem um die Clique zu treffen. Es gab da verschiedenste Gruppierungen in jeder Altersstufe. Ich kann mich aber nicht erinnern, dass es jemals zu Schlägereien oder Ausschreitungen gekommen wäre.
Das Maximum an Gewalt, was mir damals begegnete, war auf dem Weg zur Badeanstalt. Wollte ich keinen grösseren Umweg in Kauf nehmen, musste ich jeweils durch ein Gebiet mit sehr vielen Sozialwohnungen radeln, und wurde da nicht selten von einer Jugendbande gestoppt. Manchmal war niemand da, manchmal schon, es war spannend, da durchzuradeln, aber wehe sie erwischten einen. Dann wurde man mindestens beschimpft oder gedemütigt. Auch die Luft im Reifen war schnell mal rausgelassen, aber nur ein einziges Mal bekam ich eine Ohrfeige. Das war’s aber auch schon mit meinen Kindheitserfahrungen zum Thema Gewalt in der Gesellschaft.
In Zürich nachts beim Bellevue wurde ich etwa 35 Jahre später auf offener Strasse auf dem Weg mit Kolleginnen und Kollegen zur Strassenbahn von einem pöbelnden Entgegenkommenden mit einem Schlag ins Gesicht niedergestreckt. Ich musste in die Notfallbehandlung und es stellte sich heraus, dass der Typ einen Schlagring getragen hatte. Wie krank kann man sein, dachte ich mir damals. Der Täter entkam übrigens dank grossem Getümmel. Ein paar Wochen später erhielt ich eine Vorladung von der Stadtpolizei Zürich. Ich sollte dort, wie sich herausstellte, eine riesige Verbrecherkartei durchackern. Vor einem Bildschirm sitzend klickte neben mir ein Polizist fleissig durch die Bilder. Ich habe dort etwa fast 1'000 Bilder gesehen. Ich wollte wissen, ob all die Personen tatsächlich schon durch tätliche Übergriffe aufgefallen sind und mir wurde entgegnet, das seien längst noch nicht alle. Meine Hochrechnung ergab schliesslich, dass die Wahrscheinlichkeit, in Zürich einem Schläger zu begegnen, bei deutlich über eins zu hundert lag. Schon damals schien mir das erstaunlich hoch zu sein.
Martin Neff, Chefökonom RaiffeisenKönnte es sein, dass einem Teil der Jugend die Orientierung abhandengekommen ist?
Doch gegen heute scheint selbst das nichts gewesen zu sein. Mein Ältester ist schon viel öfter Zeuge von Gewalt geworden, natürlich vor allem im Ausgang. Gefühlt nehme die Gewaltbereitschaft zu und es seien klare Muster zu erkennen, namentlich Provokation und Reaktion in Kombination mit Alkohol, wenn nicht noch anderen Drogen. Einfach gesagt führt die Enthemmung zu einem «wer sich nicht provozieren lässt, riskiert eine aufs Maul zu kriegen». Tatsächlich schlägt sich diese Entwicklung auch in den Zahlen nieder. Im vergangenen Jahr wurden 20'902 Jugendliche vor Gericht schuldig gesprochen. Das waren satte 7.5% mehr als im Vorjahr und gemessen an den 97'386 verurteilten Erwachsenen, bei denen die Verurteilungen um 1% gegenüber Vorjahr rückläufig waren, eine stolze Zahl. Mehr als jede fünfte Verurteilung trifft demnach heute Jugendliche im Alter von 10 bis 18 Jahren. Ok, da ist das starke Wachstum bei Verstössen gegen das Strassenverkehrsgesetz (+15.4%), aber Zuwiderhandlungen gegen das Strafgesetzbuch legten dennoch um 6.4% zu. Was läuft da schief?
Unser Fernseher war mit einem Schloss abgeriegelt, Western mit John Wayne oder Ähnliches das grösste Spannungsmass, das ich mit knapp 14 Jahren gucken durfte. Mein Jüngster, seinerzeit 12, wurde von einer Kamera eines offenbar notorischen Wahrheitsfinder auf dessen Terrasse dabei erwischt, wie er mit seinen Kollegen inklusive Sohn des Wahrheitsfinders Pornos schaute. Wollen wir besser nicht wissen, was das für Material war, aber sicher nicht altersgerecht. Gewalt im Fernsehen ist heute kein Revolverduell mehr, sondern inszenierte Gewaltorgien, Blut garantiert. Könnte es sein, dass einem Teil der Jugend die Orientierung abhandengekommen ist? Weil heute auch Gewalt über diverse Kanäle in einer Intensität zelebriert wird, die Angst erregt? Durchaus möglich, aber wenn immer mehr Junge mit dem Gesetz in Konflikt kommen, ist das auch für die Volkswirtschaft eine Belastung, die wir wirklich ernst nehmen sollten. Gewalt kostet in jedem Fall Geld und würden wir nicht jedes Gewaltopfer als Wachstum verbuchen, weil es wieder zusammengeflickt werden muss, sondern vom Bruttosozialprodukt abziehen. Ja was dann? Wir wären im Grunde in einer Gesellschaft, in der Gewalt uns ärmer macht. Das sagte ein Volkswirt, kein Politologe, Soziologe oder Psychologe.