Deutsche Industrie geht vom Gas

Weniger Gas geben, aber noch weniger nehmen – das galt für Deutschlands Industrie diesen Sommer. Gas wurde eingespart, doch die Produktion wurde bisher kaum gedrosselt.

Auf den ersten Blick scheint Putins Plan, Energie als Waffe einzusetzen, aufzugehen. Europas Medien kennen kaum andere Themen als die Verteuerung von Gas und die Angst vor einem kalten Winter. Auf den zweiten Blick sieht es allerdings eher nach einem Pyrrhussieg Putins aus. Nicht nur, dass mit Ankündigung des fast kompletten Lieferstopps die Gaspreise ihren Zenit überschritten haben und teils wieder die Hälfte des Spitzenpreises eingebüsst haben. Darüber hinaus scheinen selbst der Lieferstopp und die Preisexplosion nicht zum befürchteten Wirtschaftskollaps geführt zu haben. Warum?

Wir sehen nun allerdings auch, wie anpassungsfähig westliche Industrien, zumal unter ausserordentlichem Druck, sind.

Martin Moryson, Chefvolkswirt Europa, DWS

Schauen wir uns etwas genauer an, wie Deutschland mit der Gasverknappung bisher umgegangen ist. Da wäre zum einen die Gasspeicherung, die deutlich schneller vorrangging als erwartet. Und zum anderen wäre da die Reduktion des Verbrauchs, bei der es ebenfalls beeindruckende Zahlen zu vermelden gibt. Dabei gehen wir davon aus, dass die privaten Haushalte erst im Herbst/Winter richtig zeigen werden, wie viel sie sparen können. Wo aber bereits gespart und durch andere Energiequellen substituiert und improvisiert wurde, ist die Industrie. Und, das ist der entscheidende Punkt, bei deutlich geringeren Produktionsausfällen als befürchtet. Wie die untenstehende Grafik zeigt, hat die deutsche Industrie etwa im Juli und im August rund 20 Prozent weniger Gas verbraucht als im Durchschnitt der Jahre 2018 bis 2021. Dennoch ist im Juli die (reale) Industrieproduktion in Deutschland nur um zwei Prozent gegenüber der Periode 2018 bis 2021 zurückgegangen. Und es st davon auszugehen, dass sich die Zahlen noch verbessern könnten, wenn das Auktionsmodell eingeführt wird. Dann werden auch jene Betriebe, die derzeit noch von günstigen Lieferbedingungen profitieren, einen Anreiz haben, den Verbrauch zu drosseln und das überschüssige Gas mit Gewinn zu verauktionieren.

Industrieproduktion und Gasverbrauch in Deutschland 2022 vs. 2018 – 2021:

Das heisst natürlich nicht, dass der deutschen Industrie (und den Haushalten) nicht ein harter Winter bevorsteht – oder vielleicht auch zwei oder drei. Allein schon aufgrund der drastisch gestiegenen Preise. So rechnen die Anlage-Experten von DWS in ihrem Basisszenario auch mit einer leichten Rezession in Deutschland (und Europa) über den Jahreswechsel. Auch dürften die Klagen der Kleinbetriebe zunächst noch zunehmen. Doch ein Katastrophenszenario, wie man es noch vor wenigen Monaten auf Basis der nun eingetretenen Situation (praktischer Lieferstopp über Nordstream I) befürchtet hätte, dürfte sich wohl nicht einstellen. Zumal die deutsche Regierung mit einem Entlastungspaket in Höhe von rund drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts den privaten und gewerblichen Konsumenten unter die Arme greifen möchte. In Bezug auf Russlands Krieg hört man oft, Putin habe den längeren Atem, da sein Volk leidensfähig und geübt im Umgang mit einer Mangelwirtschaft sei. «Wir sehen nun allerdings auch, wie anpassungsfähig westliche Industrien, zumal unter ausserordentlichem Druck, sind», meint dazu Martin Moryson, Chefvolkswirt Europa der DWS.

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