Die Welt schlittert von einer Krise in die nächste

Die Börsen befinden sich erneut im Krisenmodus. Kaum hat sich die Situation rund um die Corona-Pandemie etwas entschärft, muss sich die Wirtschaft – und damit auch die Finanzmärkte – mit einer nächsten Krise auseinandersetzen. Die unerwartete Eskalation des Ukraine-Konfliktes hat innerhalb von wenigen Tagen viele Post-Pandemie-Szenarien neuerlich auf den Prüfstand gestellt. Noch ist allerdings nicht absehbar, in welchem Umfang die von vielen westlichen Nationen unterstützten Wirtschaftssanktionen gegen Russland nicht nur die westliche, sondern auch die globale Wirtschaft treffen werden.

Russland ist einer der grössten Rohstoffproduzenten weltweit. Die Produktion beschränkt sich nicht nur auf Metalle, sondern auch auf Agrarprodukte wie etwa Weizen. Entsprechend sind bei vielen Rohstoffen die Preise steil nach oben gegangen. Auch die Ölpreise sind von dem Konflikt betroffen. Ein Fass der Rohölsorte Brent (159 Liter) kostete zeitweise rund 130 US-Dollar. Dies wirkte sich umgehend auf Benzin- und Energiepreise aus. Die Folge davon sind weiter steigende Inflationsraten, welche die Kaufkraft der Konsumenten schmälern, sowie höhere Produktions- und Transportkosten, die nicht alle Unternehmen über Preiserhöhungen weitergeben können. So ist die Inflationsrate in den USA im Februar auf 7,9 Prozent gestiegen und damit auf den höchsten Stand seit vierzig Jahren. Das erhöht die Herausforderungen an die Zentralbanken. Die amerikanische Notenbank Fed startet in diesen Tagen das Unterfangen, die Nullzinspolitik zu beenden. Allerdings wird sie achtsam vorgehen müssen, um mit zu schnellen Zinsschritten das noch immer überdurchschnittliche Wirtschaftswachstum nicht zu stark abzubremsen.

Der amerikanische Volatilitätsindex (VIX), der unter Anlegern auch als Angstbarometer gilt, ist Anfang März auf den höchsten Stand seit eineinhalb Jahren gestiegen.

Rolf Biland, Chief Investment Officer, VZ VermögensZentrum

Die länger als erwartet hoch bleibende Inflation ist auch bei der Europäischen Zentralbank (EZB) ein grosses Thema. Möglicherweise startet die EZB früher als erwartet die geldpolitische Normalisierung. Noch vor drei Monaten hatte die EZB-Präsidentin Christine Lagarde gesagt, dass eine Zinserhöhung in diesem Jahr unwahrscheinlich sei. Seither hat sich das Umfeld allerdings deutlich verändert. Zugleich lässt sich die EZB viel Spielraum offen angesichts der unklaren Lage im Ukraine-Konflikt. Solche Unsicherheiten machen sich auch an den Finanzmärkten deutlich bemerkbar. Die Kursschwankungen der Aktienmärkte haben seit Anfang Februar wieder deutlich zugenommen. Der amerikanische Volatilitätsindex (VIX), der unter Anlegern auch als Angstbarometer gilt, ist Anfang März auf den höchsten Stand seit eineinhalb Jahren gestiegen. Grundsätzlich bieten die weiterhin starken wirtschaftlichen Fundamentaldaten genug Gründe für steigende Notierungen an der Börse. Allerdings sind mit dem Ukraine-Konflikt die Risiken gestiegen. Sollte sich die geopolitische Lage verschärfen, könnte sich dies auf das wirtschaftliche Umfeld auswirken. Spätestens dann ist eine Neubeurteilung der Lage angebracht.

Aussicht auf restriktivere Geldpolitik belastet die Aktienmärkte
Nach einem schwachen Auftakt ins Jahr 2022 konnten die Aktienmärkte Anfang Februar die Abwärtstendenz abbremsen. Seitdem tendierten sie seitwärts. Somit hatten die Marktteilnehmer die Aussicht auf eine restriktivere Geldpolitik der Notenbanken akzeptiert, und der Verkaufsdruck nahm ab. Ab Mitte Februar richtete sich die Aufmerksamkeit aber auf ein anderes Thema. Der Konflikt zwischen Russland und der Ukraine rückte immer mehr in den Vordergrund und gipfelte mit dem Einmarsch der russischen Armee am 24. Februar. Was viele für undenkbar hielten, war nun Tatsache. Die bereits erhöhte Volatilität an den Märkten stieg durch dieses Ereignis nochmals deutlich an. Weltweit korrigierten die Aktienmärkte. Auch in den Tagen darauf folgten zumeist Kurskorrekturen, die jeweils nur kurzzeitig von positiven Impulsen unterbrochen wurden. Hatten europäische Aktien zum Jahresstart aufgrund ihrer Value-Eigenschaften noch besser abgeschnitten als andere Anlageregionen, war der Druck auf europäische Titel infolge des Konfliktes besonders stark. Ähnlich erging es den Schwellenländertiteln, zu denen bislang auch russische Aktien gehörten. Aber auch Aktien Schweiz, Aktien USA und Aktien Japan verloren stark an Wert. Als einzige Aktienregion blieb Pazifik ex Japan von grösseren Verlusten verschont und konnte gar seit Ende Januar an Wert zulegen.

Obwohl die Inflation aufgrund des Konfliktes kurzzeitig nicht mehr das Hauptthema an den Märkten war, rückte die Teuerung schnell wieder in den Fokus. Die Energiepreise legten trotz der bereits stark gestiegenen Kurse nochmals deutlich an Wert zu und sorgten für weiteren Druck auf die Inflation. In Europa lag die Veränderung der Inflation gegenüber dem Vorjahr im Februar bei 5,8 Prozent und stieg damit um 0,7 Prozent im Vergleich zum Januar. Nur leicht schwächer war der Anstieg in den USA um 0,5 Prozent auf 7,9 Prozent. Für die Zentralbanken wurde die Aufgabe nach den Entwicklungen in den letzten Wochen nicht einfacher. Eine Anhebung der Leitzinsen wird nach den neuerlichen Anstiegen bei der Inflation nochmals wahrscheinlicher. Aufgrund des Konfliktes in der Ukraine wird aber mit einer Abschwächung des Wirtschaftswachstums gerechnet. Daher werden die Notenbanken bemüht sein, das Wachstum nicht zu stark auszubremsen. Die Aufgabe ist bereits für die Fed in den USA eine Herausforderung. Für die EZB dürfte sie nochmals delikater sein.

Aufgrund der langfristig konstruktiven Marktlage sind weitere grössere Kursrücksetzer als Kaufgelegenheit zu sehen.

Rolf Biland

Wie bereits im Vormonat profitierten Energieunternehmen von steigenden Preisen und legten nochmals deutlich zu. Leicht im positiven Bereich schlossen Unternehmen aus dem Sektor Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe ab, die von steigenden Rohstoffpreisen profitierten. Schwächer schnitten hingegen Sektoren mit starkem Fokus auf Wachstum ab. Die grössten Rücksetzer waren aber aufgrund der Eskalation in der Ukraine bei den Finanztiteln zu beobachten. Von den Kursrückgängen waren insbesondere europäische Banken betroffen, die stark exponiert sind mit Geschäften in Russland.

In der Technischen Analyse konnte sich der MSCI World Anfang Februar nach dem Test der Unterstützungszone um 3'000 Punkte nochmals kurzzeitig erholen, bevor er erneut unter Druck kam. Die Eskalation im Ukraine-Konflikt hat in der Folge zu einem Bruch der Unterstützung und einem Abrutschen auf die nächste Supportmarke im Bereich von 2'800 Punkte geführt. Obwohl es aufgrund der überverkauften Situation zu einer temporären Erholung kommen könnte, hat sich das technische Bild eingetrübt. Wenn die bisherigen Korrekturtiefstände unterschritten werden, dürfte es zu einer Fortsetzung der Korrektur in Richtung des 50 Prozent-Retracement-Levels der Aufwärtsbewegung von März 2020 kommen. Erst ein Wiederanstieg über den 200-Tagesdurchschnitt bei knapp 3'100 Punkten würde sich die Lage entspannen. Aufgrund der langfristig konstruktiven Marktlage sind weitere grössere Kursrücksetzer als Kaufgelegenheit zu sehen.

Inflation drängt die Zentralbanken zu Reduktion der expansiven Geldpolitik
Nach der Eskalation des Ukraine-Konfliktes nahm die Volatilität einmal mehr zu. Der rasche Zinsanstieg zu Beginn des Jahres wurde dadurch temporär unterbrochen, und die Zinsen gingen wieder zurück. Nachdem aber klar wurde, dass die geopolitischen Entwicklungen die Zentralbanken nicht davon abbringen werden, die Zinsen bald anzuheben, stiegen die Zinsen wieder kräftig an. Der Zinssatz 10-jähriger US-Staatsanleihen erreichte kürzlich wieder die 2-Prozent-Marke. Die Rendite 10-jähriger Eidgenossen stieg im Januar in den positiven Bereich und konnte sich seitdem dort behaupten. Die Eskalation des Ukraine-Konfliktes befeuerte erneut die Inflationssorgen. Während man vor einigen Monaten noch von einer rücklaufenden Inflation für das Jahr 2022 ausgegangen war, hat sich die Teuerung in den letzten Monaten wieder intensiviert. Grund dafür sind die stark steigenden Energiepreise sowie die erwarteten Lieferengpässen bei mehreren Agrarrohstoffen. Diese Entwicklungen werden in den kommenden Monaten zu weiteren Preiserhöhungen führen – trotz der aktuell ungewöhnlich hohen Inflationsraten von 6 bis 8 Prozent in Europa und in den USA.

Eine rasche Straffung der Geldpolitik erscheint aus Inflationssicht dringend notwendig. Gleichzeitig bleibt höchst ungewiss, wie stark die wirtschaftliche Erholung durch die Sanktionen gegen Russland beeinträchtigt werden könnte.

Rolf Biland

Eine rasche Straffung der Geldpolitik erscheint aus Inflationssicht dringend notwendig. Gleichzeitig bleibt höchst ungewiss, wie stark die wirtschaftliche Erholung durch die Sanktionen gegen Russland beeinträchtigt werden könnte. Diese Situation stellt eine Herausforderung für die Notenbanken dar.Vor diesem Hintergrund ist es etwas überraschend, dass die EZB und die Fed eine schnellere Normalisierung der Geldpolitik vorantreiben wollen. Die EZB hat an ihrer Sitzung im März ein schnelleres Zurückfahren des Anleihekaufprogramms entschieden. Das Pandemie-Notfallankaufprogramm (PEPP) wird, wie vorgesehen, diesen Monat beendet. Die geplante Aufstockung des regulären Anleihekaufprogramms im zweiten Quartal wird neu im geringeren Umfang durchgeführt. Abhängig vom Inflationsausblick könnte das Programm bereits im dritten Quartal beendet werden. Damit würde die EZB den Weg für die erste Zinserhöhung frei machen. Die Märkte erwarten von der EZB dieses Jahr mehrere Zinsschritte von je 10 Basispunkten. Die Notenbank geht in der Eurozone für das Jahr 2022 von einer deutlich höheren Inflation aus als noch im Dezember. Die Prognosen gehen von einer Rückkehr auf die Zielinflationsrate von 2 Prozent im Jahr 2023 aus. Die Wachstumsprognose für die Eurozone wurde zudem nach unten angepasst, obwohl sie über dem Leistungspotenzial liegen dürfte. Seit Jahresanfang verschärfte auch die amerikanische Notenbank Fed ihre Rhetorik und stellte mehrere Zinserhöhungen für das Jahr 2022 in Aussicht. Der erste Zinsschritt in Höhe von 25 Basispunkten dürfte bereits im März durchgeführt werden. Die Märkte haben für dieses Jahr aktuell sechs bis sieben Zinserhöhungen eingepreist. Die Fed-Mitglieder dürften ihre Erwartungen in Hinblick auf die Zinsentwicklung im Vergleich zum Dezember ebenfalls angepasst haben und zusätzliche Zinsschritte befürworten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Zinsprognosen erneut nach oben angepasst werden. Um der Inflation entgegenzuwirken, dürfte die US-Notenbank viel schneller mit der Bilanzreduktion beginnen als noch im letzten Zinserhöhungszyklus. Dazu könnte ein konkreter Plan im Mai präsentiert werden. Die Umsetzung dürfte unmittelbar danach folgen.

Auch in der Schweiz steigt die Inflation dynamisch an und verharrt zum ersten Mal seit 2008 über dem Wert von 2 Prozent. Dies mag im internationalen Vergleich tief aussehen, für schweizerische Verhältnisse ist er aber relativ hoch. Der Aufwertungsdruck beim Franken hilft als Dämpfer der importierten Inflation. Die Schweizerische Nationalbank wird stark von den internationalen Entscheidungen beeinflusst und dürfte erst nach der EZB an der Zinsschraube drehen. Daher rechnet man in der Schweiz erst im nächsten Jahr mit einer Anhebung des Leitzinses.

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