Von wegen regelbasiert
In der Schule war mein Banknachbar, ein verwöhntes und korpulentes Einzelkind, stets bestens mit Süssigkeiten ausgestattet. Kaugummi, Gummibärchen oder Storcks Riesen standen fast täglich auf dem, besser gesagt seinem, Programm.
Ich armer Wicht konnte noch so viel betteln, es gab meist nur Brosamen, während er sich neben mir schmatzend – natürlich nicht so laut, dass der Lehrkörper etwas bemerkte – den Bauch vollschlug und mir das Wasser im Munde zusammenlief. Wurde ich zu aufdringlich – und wie ich das wurde! – hiess es lapidar: «Du kannst Dir ja selbst was mitbringen». Ausser einer Butterstulle gab’s aber nicht mehr in meinem Schulranzen. Manchmal war noch eine Scheibe Wurst mit drauf, aber nur, wenn es für alle reichte. Schliesslich hatte ich noch drei Geschwister mit ähnlich unbefriedigten Bedürfnissen. Geschadet hat’s mir nicht, Bescheidenheit ist ja keine schlechte Tugend und man kann sie nicht früh genug lernen und lehren. Aber ist Bescheidenheit wirklich noch eine deutsche Tugend?
Martin Neff, Chefökonom RaiffeisenWer dachte, mit dem Regierungswechsel würde eine neue, bessere Ära hereinbrechen, in der Deutschland seiner Führungsrolle endlich verantwortungsvoll und weniger opportunistisch gerecht würde, sieht sich getäuscht.
Das heutige Deutschland erinnert mich sehr an damals und meinen Banknachbarn. Deutschland war in der Eurokrise der Moralapostel par excellence. Die Bild-Zeitung machte die GIPSI (Griechenland, Italien, Portugal, Spanien und Irland) madig und mahnte diese zu mehr finanzpolitischer Disziplin, beschimpfte sie als faul und unzuverlässig, währenddessen das Land vom Verfall des Euros stark profitierte und weiter Storcks Riesen mampfte. Nebenbei konnten die Deutschen dank Weichwährung, also ohne eigenes Zutun, die Welt mit qualitativ hochstehenden «Billigimporten» überschwemmen und da es keine Inflation gab, waren selbst die deutschen Steuerzahler Nutzniesser der unsäglichen Eurokonstellation. Nebenbei scharwenzelte Merkel mit Putin und schmuste mit China, das heute Deutschlands wichtigster Absatzmarkt ist. Nebenbei tat man in allen kriegerischen Konflikten nur das Nötigste und hielt sich vornehm zurück, wenn es ans Eingemachte ging. Nur einmal – so nebenbei – am Peak der Flüchtlingskrise war Empathie im Spiel, aber auch das nur kurz. Wir schaffen es doch nicht, müsste es heute heissen. Nicht, dass ich das zum ersten Mal sagen würde, aber es sei noch mal betont: Diese «Mami» hat Deutschland in Watte verpackt, weichgespült und heruntergewirtschaftet. «Teutonische» Werte wie Stabilität und Zuverlässigkeit wurden unter ihrem Regime über Bord geworfen. Merkel wurde Sklavin der Industrielobby, vor allem derjenigen einer Automobilbranche, einer Branche notabene, die Millionen von Kunden über den Tisch gezogen hat, indem sie Abgasschummel betrieb. Parallel dazu hat sie Deutschland abhängig, ja süchtig gemacht nach russischem Gas und auch Öl. Und sie hat die Autokratie in China als unproblematische Nebenerscheinung einer Evolution zum Guten interpretiert und entsprechend den Ball flach gehalten, wenn es um Kritik am Regime ging. Schliesslich schätzen die Chinesen Audi, BMW, Mercedes und Maschinen «Made in Germany» und die Lobby der Exporteure sass ihr im Nacken, es mit dem Reich der Mitte bloss nicht zu verscherzen. Die deutsche Wirtschaft ist drum heute süchtig nach russischen Rohstoffen und süchtig nach einem Absatzmarkt, in dem Menschenrechte mit Füssen getreten werden. Ein Glück ist sie weg, dass das auch mal gesagt wäre. Wendehalspolitik ade? Von wegen!
Wer dachte, mit dem Regierungswechsel würde eine neue, bessere Ära hereinbrechen, in der Deutschland seiner Führungsrolle endlich verantwortungsvoll und weniger opportunistisch gerecht würde, sieht sich getäuscht. Die halbgrüne, halbneoliberale und dreiviertelsoziale Koalition hat angesichts der epochalen Verwerfungen all ihre Grundsätze über Bord geworfen und die Klimaziele leise jammernd beerdigt. Kohlekraft, Atomenergie? Nur noch ein bisschen, es herrscht schliesslich Mangel. Und die Ukraine? Die kriegt (vielleicht irgendwann mal) ein bisschen Papppanzer und ausrangiertes Militärarsenal. Gas braucht das Land jetzt dringend und dafür Hilfe, selbst von den einst Geächteten. Alle sollen nun ein bisschen sparen, damit es den Deutschen nicht kalt wird im Winter. Auch wir, wenn es nach unserer Energieministerin geht. Hallo?
Martin NeffRussische Steuergelder aus zwielichtigem Rohstoffhandel oder von Oligarchen des Ostens sind moralisch schwer zu rechtfertigen, aber willkommen alle Male, vor allem im Kanton Zug, wo ich zu Hause bin.
Ich kam nie in die Situation, dass mein damaliger Banknachbar um einen Biss von meiner Stulle bettelte, der wäre wahrscheinlich zu stolz dafür gewesen, aber Deutschland ist das nicht. Jetzt, da dem europäischen Wirtschaftsmotor das Wasser bis zum Hals steht, sollen die einst so geschmähten Länder Europas Deutschland helfen. Schön, dass sie die Bereitschaft dazu bekundet haben, aber den Deutschen täte eine stärkere Lehre gut. Sparen, nicht zu sagen austrocknen bis aufs Blut, so wie sie es damals von den Griechen verlangten. Und wie wär’s mal damit? Den Fuss vom Gas zu nehmen und die Freiheit, auf den Autobahnen zu rasen, wie’s einem beliebt, ein für allemal abzuklemmen? Fehlanzeige! Lieber neue Abhängigkeiten schaffen und dafür beide Augen zukneifen. Katar, Saudi-Arabien und andere über «keinen Zweifel erhabene Nationen» werden nun hofiert und die Raser nebenbei subventioniert bis zum geht nicht mehr. Ein Glück sind wir neutral.
Aber sind wir das wirklich? Die Russen sehen das ganz und gar nicht so, wir haben es vergeigt, Neutralität mit aller Konsequenz zu orchestrieren. Russische Steuergelder aus zwielichtigem Rohstoffhandel oder von Oligarchen des Ostens sind moralisch schwer zu rechtfertigen, aber willkommen alle Male, vor allem im Kanton Zug, wo ich zu Hause bin. Drum taten wir uns so schwer mit den Sanktionen, die gegenüber Russland verhängt wurden. Nur: Mussten wir wirklich mit- bzw. nachziehen? Die Schweiz läuft aktuell Gefahr, ihren Mythos der Neutralität zu verspielen, nur weil andere verrücktspielen und wir den sogenannt regelbasierten globalen Handel um jeden Preis mittragen wollen. Das ist eindeutig der falsche Weg. Denn diese Regeln sind schmutziger als wir wahrnehmen. Die Globalisierung hat die Reichen reicher gemacht und die Armen etwas weniger arm und das war’s auch schon. Profiteure dieser Entwicklung waren die Spekulanten an den Finanzmärkten und die, die ohnehin schon hatten. Wann, wenn nicht jetzt, findet endlich ein Umdenken statt, in etwa: Fuss vom Gas(pedal), Hände weg vom russischen Gas, vom schmutzigen Öl aus dem Nahen Osten, von den chinesischen seltenen Erden, den Metallen aus Mittelamerika und den Diamanten aus afrikanischen Minen? Das wäre doch mal wirklich regelbasiert, moralisch vertretbar, nicht?