Karsten-Dirk Steffens: «Meines Erachtens gibt es zu viel Selbstzufriedenheit in Bezug auf die Leistung der Wirtschaft.»

An den Finanzmärkten scheint wieder eine gewisse Ruhe eingekehrt zu haben. Diverse europäische Aktienindizes haben neue Jahreshöchststände erklommen. Anlegerkreise blicken vor diesem Hintergrund wieder etwas zuversichtlicher in die Zukunft, bleiben insgesamt aber dennoch zurückhaltend. Wir haben bei Karsten-Dirk Steffens, Schweiz-Chef von abrdn, nachgefragt, was von der derzeitigen Börsenlage zu halten ist und wo sich Investment-Opportunitäten anbieten.

Karsten-Dirk Steffens, eben noch machte das Gespenst einer neuen Bankenkrise die Runde und trotzdem schiessen die europäischen Aktienindizes in die Höhe. Zeigen die aktuellen Börsenbewertungen überhaupt noch ein reales Abbild der Wirtschaft?

Karsten-Dirk Steffens: Mit einem Wort: nein. Ich bin der Meinung, dass die Risikomärkte angesichts der bevorstehenden wirtschaftlichen Herausforderungen zu optimistisch sind. Die Märkte haben die Ängste des Banken-Sektors weitgehend abgetan, und ich bin mir sicher, dass sich dieser Druck nicht in eine systemische Krise verwandeln sollte. Die Märkte werden auch durch die jüngsten verbesserten Wirtschaftsdaten ermutigt. Meines Erachtens gibt es zu viel Selbstzufriedenheit in Bezug auf die Leistung der Wirtschaft. Die Zinsen in Europa befinden sich inzwischen deutlich im restriktiven Bereich, ebenso wie in den USA und vielen anderen Volkswirtschaften. Aber die Auswirkungen höherer Zinsen auf die tatsächliche Wirtschaftstätigkeit beginnen sich eben erst auszuwirken. Die «langen und variablen Verzögerungen» der Geldpolitik werden im Laufe des Jahres immer restriktiver werden.

Ich bin der Meinung, dass die Risikomärkte angesichts der bevorstehenden wirtschaftlichen Herausforderungen zu optimistisch sind.

Karsten-Dirk Steffens, Schweiz-Chef von abrdn

In Ihrem aktuellen Investmentausblick ist von «Rissen in den Volkswirtschaften der Industrieländer» die Rede. Was genau ist darunter zu verstehen?

Inmitten einiger starker Daten und der offensichtlichen Widerstandsfähigkeit der entwickelten Marktwirtschaften im Jahr 2023 zeigen sich Risse, wenn man genau hinschaut. In den USA ist der Frühindikator für die Wirtschaft des Conference Board unglaublich schwach und steht im Einklang mit einer Rezession innerhalb von ein oder zwei Quartalen. Der Immobilienmarkt kämpft mit höheren Zinsen, und das verarbeitende Gewerbe ist bereits rückläufig. Schliesslich sind die wöchentlichen Anträge auf Arbeitslosenunterstützung gestiegen und die Stellenangebote sind zurückgegangen. In Europa schrumpft das verarbeitende Gewerbe, und das Verbrauchervertrauen hat sich zwar erholt, ist aber immer noch ziemlich schwach. Dies sind vorerst nur Strohhalme im Wind, denn der Kern der Wirtschaft – der Arbeitsmarkt – bleibt in den meisten Volkswirtschaften stark.

Müssten sich die Anleger vor dem Hintergrund einer absehbaren, noch strafferen Geldpolitik nicht an der Devise «Cash is king» orientieren?

Liquidität spielt in unsicheren Zeiten eine wichtige Rolle in Portfolios und kann eingesetzt werden, wenn sich Chancen und Verwerfungen an den Märkten ergeben. Allerdings weist sie derzeit auch eine negative Realrendite auf, während wir für Anleger, die ihre Mittel investieren und für sich arbeiten lassen, Chancen ausmachen. Angesichts dessen, was wir über die makroökonomischen Aussichten gesagt haben, sehen wir beispielsweise Opportunitäten an den Anleihemärkten, bei hochwertigen Unternehmensanleihen und bei hochwertigen Aktien. Ein Portfolio, das sich auf der Qualitätsskala nach oben bewegt und in der Lage ist, makroökonomischen Gegenwind zu überstehen, könnte sich besser entwickeln als «cash».

Ist China der Heilsbringer für Investoren angesichts der hohen Inflation in Europa und in den USA?

Die wirtschaftlichen Aussichten für China sind besser als in den Industrieländern. China erlebt eine Erholung nach der Wiedereröffnung von Covid, was sich in den BIP-Daten und anderen häufigeren Wachstumskennzahlen wie den PMIs, der Immobilienaktivität und unserem eigenen proprietären Wachstumstracker zeigt. Auch wenn sich die Wirtschaft im Laufe dieses Jahres wahrscheinlich etwas verlangsamen wird, weil sie das Tempo der Wiedereröffnung nicht auf unbestimmte Zeit aufrechterhalten kann, gehe ich davon aus, dass das Wachstum das Ziel der Regierung von 5% im Jahr 2023 deutlich übertreffen wird. Darüber hinaus ist in China die Inflation kein Problem – im Gegensatz zu Europa und den USA. Allerdings dürften die globalen wirtschaftlichen Spillover-Effekte des starken Wachstums in China ziemlich begrenzt sein. Die Erholung der Wiedereröffnung orientierte sich am inländischen Dienstleistungskonsum, der während der Lockdowns derjenige Teil der Wirtschaft war, der am gedämpftesten war. Dieser hat eine relativ geringe Importintensität im Vergleich zum verarbeitenden Gewerbe. Wo es wahrscheinlich globale Spillover-Effekte geben wird, sind die chinesischen Touristenströme, die einen Schub für Teile Südostasiens, aber auch für die Luxusgütermärkte in Europa bedeuten. Die Chance besteht also wirklich für Anleger, die Zugang zu den chinesischen Inlandsmärkten haben und mit Fachwissen vor Ort in China investieren können.

Zum Schluss eine obligate Frage zur Übernahme der Credit Suisse durch die UBS: Empfehlen Sie UBS-Aktien jetzt zum Kauf?

Hierzu kann und will ich mich derzeit nicht äussern. Zu vieles ist noch in Bewegung und für eine seriöse Einschätzung fehlen noch viele verifizierte Detailangaben der beiden Häuser.