Nettoabflüsse aus US-Aktien werden zunehmend in europäische Märkte umgeleitet

Eine Kombination aus fiskalpolitischer Unterstützung, strukturellen Reformen und attraktiven Bewertungen verleiht europäischen Aktien neuen Auftrieb.

Europäische Aktien könnten von einem tiefgreifenden Paradigmenwechsel profitieren. Zwar bleibt die Wirtschaft des Kontinents durch Handelskonflikte – etwa US-Zölle und chinesische Überkapazitäten – belastet, doch in diesem herausfordernden Umfeld sehen wir eine Chance: Die Politik von Donald Trump wirkt als Katalysator, der Europa dazu bewegt, seine strategische Autonomie zu stärken und strukturelle Reformen zu beschleunigen. Mehrere Faktoren stützen diese Dynamik: die Schwächung des US-Dollars und der Rückgang des amerikanischen «Exzeptionalismus», was zu einer geringeren Konzentration der Kapitalflüsse auf grosse Tech-Werte führt; die verzögerten Effekte des deutschen Konjunkturprogramms; Initiativen der neuen Regierungskoalition zur Stärkung der Energiewettbewerbsfähigkeit; steigende Verteidigungsbudgets; und weiterhin attraktive Bewertungen in mehreren Industriesegmenten. Wir erwarten daher eine strukturelle Weiterentwicklung des europäischen Modells – weg von konsumgetriebener hin zu angebotsorientierterem Wachstum, getragen durch eine stärkere Kapitalallokation in den produktiven Sektor.

Eine nachhaltige Kapitalverlagerung nach Europa
Seit Jahresbeginn verzeichnen US-Aktien Nettoabflüsse, von denen ein wachsender Anteil in europäische Märkte umgeleitet wird. Dieser Trend könnte sich als dauerhaft erweisen. Dabei hatte das Jahr mit einem starken Zufluss in US-Anlagen begonnen – noch als vermeintlich sicherer Hafen, unterstützt durch Erwartungen an Steuererleichterungen und Deregulierung unter der Trump-Administration. Doch seit März untergraben zunehmende Unsicherheiten – etwa Debatten um Zölle und erratische Ankündigungen aus dem Weissen Haus – das Vertrauen der Investoren. Steigende langfristige Staatsanleiherenditen und ein wachsender Goldpreis zeugen davon. Infolgedessen ist die Risikoprämie für US-Anlagen deutlich gestiegen.

Seit Jahresbeginn verzeichnen US-Aktien Nettoabflüsse, von denen ein wachsender Anteil in europäische Märkte umgeleitet wird. Dieser Trend könnte sich als dauerhaft erweisen.

Julie Arav, Portfolio Managerin, DNCA

Gleichzeitig verblasst der zuvor übertriebene Pessimismus gegenüber Europa. Die politische Lage beruhigt sich, fiskalische Sorgen – besonders in Frankreich und Italien – lassen nach, und das deutsche Konjunkturpaket wirkt als bedeutender Impulsgeber. Dennoch bleiben europäische Aktien in globalen Portfolios deutlich untergewichtet – eine strategische Gelegenheit, die geografische Allokation zu diversifizieren und die Euro-Position zu stärken. Selbst nach der bisherigen Outperformance seit Jahresbeginn notieren europäische Aktien weiterhin mit einem deutlichen Abschlag gegenüber US-Aktien – bei nach wie vor hohen Risikoprämien, was weiteres Aufwärtspotenzial eröffnet.

Industrieller Wandel mit Deutschland als Treiber
Deutschland, die grösste Volkswirtschaft Europas, nimmt eine Schlüsselrolle bei der konjunkturellen Erholung ein. Konfrontiert mit tiefgreifenden strukturellen Herausforderungen, wandelt das Land sein traditionelles exportorientiertes Wirtschaftsmodell hin zu einer stärker innereuropäischen Ausrichtung. Diese Entwicklung wird von einer wirtschaftsfreundlichen, bürgerlich geprägten Koalition gefördert, die die industrielle Wettbewerbsfähigkeit stärken will. Das geopolitische Umfeld zwingt Europa zu grösserer strategischer Autonomie, insbesondere in den Bereichen Energie und Verteidigung – beides Sektoren mit steigenden Budgets. Ein möglicher Waffenstillstand in der Ukraine könnte zudem ein gross angelegtes Wiederaufbauprogramm auslösen und die europäischen Branchen für Grundstoffe, Bauwesen und Ingenieursdienstleistungen stärken. Auch in Deutschland eröffnen Reformbestrebungen neue Perspektiven für Infrastrukturinvestitionen und industrielle Ressourcen wie Chemie oder Metallverarbeitung. Dieses industrielle Wiedererstarken erfordert jedoch einen besseren Zugang zu Finanzierung. Dafür ist eine Stärkung der europäischen Finanzinstitutionen unerlässlich. Eine grenzüberschreitende Konsolidierung im Bankensektor – kombiniert mit dem Aufbau einer echten Kapitalmarktunion – wäre ein strategischer Meilenstein, um Kapital freizusetzen, Innovationen zu fördern und Investitionen in zukunftsträchtige Industrieprojekte zu lenken.

Chancen jenseits der Unternehmensgrösse
Die Unternehmensgrösse ist für uns kein primäres Allokationskriterium. Dennoch bieten Nebenwerte – sensibler gegenüber Binnenkonjunktur – einen interessanten Zugang zur aktuellen wirtschaftlichen Neuausrichtung Europas. Auf Seiten der Large Caps gibt es ebenfalls Chancen – insbesondere im Value-Segment innerhalb der Industriebranchen, wo die Bewertungen noch unter dem Marktdurchschnitt liegen. Darüber hinaus legen wir besonderes Augenmerk auf weniger globalisierte Sektoren, die stärker in der Binnenwirtschaft der EU verwurzelt sind und daher weniger anfällig für Handelskonflikte oder geopolitische Schocks.

Aufwärtspotenzial noch kaum eingepreist
Kurzfristig scheinen einige Segmente – wie etwa die Verteidigung – die positiven Erwartungen bereits weitgehend eingepreist zu haben, nach ihrer starken Kursentwicklung seit Jahresbeginn. Dennoch ist das deutsche Konjunkturpaket auf langfristige Wirkung ausgelegt, mit einer Umsetzung über ein Jahrzehnt – was nachhaltiges Potenzial für Industrieunternehmen eröffnet. Parallel dazu dürfte sich eine strukturelle Verbesserung der europäischen Wachstumsaussichten schrittweise in den Bewertungen niederschlagen – mit höheren Multiples als im vorherigen Zyklus.

Ein gestärktes Europa angesichts unberechenbarer USA
Donald Trump könnte kurzfristig für Volatilität auf den europäischen Märkten sorgen, bedingt durch widersprüchliche Aussagen. Doch seine jüngsten Kurswechsel als Reaktion auf Marktreaktionen zeigen, dass er auf deren Signale achtet und seine Entscheidungen unter Druck anpasst. Das relativiert die potenziellen Auswirkungen auf Europa, die möglicherweise weniger gravierend ausfallen, als von manchen Beobachtern befürchtet. Darüber hinaus ist Europa sich bewusst geworden, dass es sich nicht länger allein auf die transatlantische Allianz verlassen kann, und strebt eine stärkere geopolitische Positionierung an. Die eingeleiteten Reformen dürften trotz externer Unsicherheiten weitergeführt werden. Ein Restrisiko bleibt jedoch: ein Überschuss chinesischer Waren, der aufgrund zunehmender Handelskonflikte auf europäische Märkte drängt. Dieses Szenario könnte deflationären Druck erzeugen und Unternehmensmargen belasten. Im Gegensatz zur Lage vor fünfzehn Jahren verfügt Europa heute jedoch über einen robusteren regulatorischen Rahmen, der es ermöglicht, Dumping besser zu bekämpfen und Überkapazitäten aus China wirkungsvoller zu begegnen.

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