Warum europäische Aktien derzeit ihre amerikanischen Pendants überflügeln

«Make America Great Again» – viele Anleger hatten erwartet, dass Donald Trumps Agenda US-Aktien zu neuen Höhenflügen verhelfen würde. Doch statt Steuersenkungen und Deregulierung gab es zunächst eine isolationistische Haltung der US-Regierung, die Zölle als Verhandlungsstrategie einsetzt. Die Folge: Die europäischen Aktienmärkte konnten sich in den letzten Monaten aus ihrer Flaute befreien und ihre amerikanischen Pendants überflügeln.

Im Einzelnen liegen den jüngsten Aktienmarktentwicklungen vier Faktoren zugrunde. Erstens ist hier eine Neubewertung der grossen US-Technologiewerte zu nennen. Das chinesische Startup DeepSeek machte im Januar Schlagzeilen und sorgte bei Anlegern für Verunsicherung hinsichtlich des weiteren Wachstumsvorsprungs und der Investitionsfähigkeiten der US-Tech-Giganten. Da die «Magnificent Seven» rund ein Drittel der Marktkapitalisierung des S&P 500 ausmachen, wurden Konzentrationsrisiken neu bewertet und nach Anlagealternativen Ausschau gehalten.

Zweitens gibt es Zweifel, ob und in welchem Umfang Trumps Pläne, Steuern, Staatsausgaben und Regulierung massiv zu senken, wirklich durchführbar sind. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund einer US-Staatsverschuldung von bereits über 120% des BIP. Die angekündigten Zollerhöhungen sowie Gegenmassnahmen haben den US-Aktienmarkt zusätzlich belastet.

Drittens gibt es steigende europäische Staatsausgaben, insbesondere bei Verteidigung. Die engeren Beziehungen der USA zu Moskau und die potenzielle Gefahr eines NATO-Austritts der USA haben Europa dazu veranlasst, Verteidigungsausgaben im Rahmen einer unabhängigeren europäischen Politik und zur Ankurbelung des Wirtschaftswachstums Priorität einzuräumen. Die in Deutschland und EU-weit geplanten umfangreichen Ausgabenprogramme, die neben Verteidigung auch Infrastrukturinvestitionen mit einem tendenziell höheren BIP-Multiplikator beinhalten, könnten Schritte in Richtung einer vertieften europäischen Integration und sogar einer gemeinsamen Emission von Schuldtiteln initiieren. Zudem liegt die Verschuldungsquote in der Eurozone (knapp 90% des BIP) und in Deutschland (etwa 60%) deutlich unter der der USA. Dies dürfte europäischen Aktien Auftrieb verleihen, trotz des Risikos insgesamt höherer Zinsen für Staatsanleihen in der Region.

Das Szenario eines sich intensivierenden Handelskrieges bleibt zwar ein Risiko. Gleichwohl sprechen die jüngsten Entwicklungen für einen aktiven und diversifizierten Ansatz bei der Vermögensallokation.

Gregor Hirt, Global CIO Multi Asset, Allianz Global Investors

Viertens schliesslich sind Schritte in Richtung Deregulierung in Europa zu nennen. Da die USA eine Lockerung der Unternehmensvorschriften anstrebt, muss Europa aus Wettbewerbsgründen möglicherweise ebenfalls bestehende Regulierungen lockern. Weniger Bürokratie würde sich positiv auf das Wachstum auswirken. Einige Vorschriften wurden bereits aufgeschoben, wie etwa die für die ESG-Berichterstattung und die CO2-Abgaben für Fahrzeuge. Weitere dürften folgen, wenn Europa den Empfehlungen des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi vom letzten Jahr folgt. Angesichts der enormen Regulierungsdichte in der EU könnte bereits ein geringfügiger Abbau von Bürokratie fühlbare Auswirkungen auf Wachstum und Produktivität haben. Der IWF taxierte die Last der bestehenden Regulatorik jüngst auf das finanzielle Äquivalent zu Zöllen in Höhe von 44% auf Waren und 110% auf Dienstleistungen für den Handel innerhalb der EU.

Als Reaktion auf diese Entwicklungen haben Anleger begonnen, ihre Allokation in europäische Aktien in der Breite zu erhöhen. Vor diesem Hintergrund sehen wir mehrere Investment-Opportunitäten in Europa. Abgesehen von den Bereichen Verteidigung sowie – im Falle einer belastbaren Waffenruhe in der Ukraine – dem Chemie- und Bausektor, sollten Anleger auch den Bankensektor in den Blick nehmen, dem robuste Erträge und die Aussicht auf fiskalische Wirtschaftsanreize eine starke Dynamik verliehen haben. Die Bewertungen der hiesigen Finanzinstitute sind im Vergleich zu denen in den USA immer noch angemessen, gleichzeitig könnten Fusionsaktivitäten an Fahrt gewinnen. Ein auf den ersten Blick überraschend anmutender weiterer interessanter Sektor ist die Automobilbranche. Zwar leidet diese in Europa unter dem Strukturwandel Richtung Elektromobilität, die Risiken im Zusammenhang mit der Zollpolitik sind allerdings inzwischen eingepreist. Insgesamt erscheint der Sektor unterbewertet und billig. Er könnte an Auftrieb gewinnen, wenn sich die europäische Wirtschaft wieder beschleunigt, Investoren ihre starke Untergewichtung überdenken oder wenn es eine überraschende Einigung mit Blick auf die Zölle gibt. Und schliesslich gewinnt ist der Euro an Attraktivität. Ein grösserer Optimismus hinsichtlich einer europäischen Konjunkturerholung und politischer Reformen spricht für bessere Aussichten der Gemeinschaftswährung gegenüber dem Schweizer Franken und dem US-Dollar.

Alles in allem besteht in den kommenden Monaten Potenzial für weitere Impulse an den europäischen Märkten. Das Szenario eines sich intensivierenden Handelskrieges bleibt zwar ein Risiko. Gleichwohl sprechen die jüngsten Entwicklungen für einen aktiven und diversifizierten Ansatz bei der Vermögensallokation.

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