Revidierte Kursziele nach dem Putin-Schock
Beispiellose Ereignisse in einem wechselhaften und höchst unsicheren Umfeld sind der Prognosegenauigkeit nicht förderlich. In den letzten Tagen haben viele geopolitische Experten argumentiert, dass der Einmarsch von Präsident Wladimir Putin in die Ukraine wahrscheinlich die grösste Veränderung in der internationalen Politik der jüngeren Zeitgeschichte darstellt, zumindest seit dem Fall der Berliner Mauer.
Wie dieses unglückselige Abenteuer ausgehen wird, bleibt unklar, und es ist sicherlich zu früh für konkrete Vorhersagen, wie es dabei am Ende für die Ukraine, Putins Regime in Russland oder den Rest der Welt ausgehen wird. Auf die eine oder andere Weise dürfte das, was sich zum Zeitpunkt des Schreibens in Kiew, Charkiw und Mariupol abspielt, die Ansichten kommender Generationen auf schwer vorhersehbare Weise prägen. Die Schrecken, die derzeit der Ukraine zugefügt werden, könnten eines Tages so betrachtet werden, wie wir jetzt an den Aufstand im Warschauer Ghetto oder das Gemetzel in Stalingrad denken, mit dem Unterschied, dass die ganze Welt in Echtzeit zuschaut.
Als Vermögensverwalter müssen wir uns auf die Ergebnisse konzentrieren, die wir bereits prognostizieren müssen, wohl wissend, dass es viele Unsicherheiten gibt, die andere möglicherweise besser einschätzen können. In den knapp zwei Wochen, seitdem wir zuletzt unsere strategischen Ziele für die globale Wirtschaftsentwicklung und die Finanzmärkte definiert haben, hat sich die Welt verändert. Wir erwarten, dass ein wesentlicher Teil der Sanktionen gegen Russland bestehen bleibt, vielleicht sogar über unseren Prognosehorizont von 12 Monaten hinaus. Die Anpassung an diese veränderte Welt wird Zeit brauchen.
Stefan Kreuzkamp, Chief Investment Officer, DWSWir erwarten, dass ein wesentlicher Teil der Sanktionen gegen Russland bestehen bleibt, vielleicht sogar über unseren Prognosehorizont von 12 Monaten hinaus.
Aufgrund des starken Anstiegs der Energiepreise dürften die Inflationsraten ausgehend vom aktuellen Niveau weiter steigen. Wie stark dieser Effekt sein wird und wie lange er andauern wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch unklar, da er von der Unterbrechung der Energielieferungen ebenso abhängt wie der Versorgungsicherheit von anderen Rohstoffen aus Russland und der Ukraine. Dazu kommen auch noch Zweit- und Drittrunden Effekte in anderen Teilen der Welt. Ausserdem ist es viel zu früh, um abzuschätzen, wie hoch der Schaden durch den Krieg selbst letztendlich sein wird, einschliesslich kritischer Infrastrukturen wie Gaspipelines. Der Schaden für Russlands Ruf wird wahrscheinlich jeden unserer üblichen Prognosehorizonte überschreiten.
Auch in anderer Hinsicht wird die Welt nicht zur Normalität zurückkehren, was auch immer Normalität nach einer Jahrhundertpandemie überhaupt bedeutet mag. In Westeuropa werden die Militärausgaben stark steigen (auch für die Cybersicherheit), ebenso wie Infrastrukturinvestitionen durch den privaten Sektor zur Verbesserung der Energieunabhängigkeit oder zumindest zur Sicherung der Versorgung durch befreundete Verbündete. Dabei wird wohl in Zukunft verstärkt verflüssigtes Erdgas (LNG) aus Nordamerika zum Einsatz kommen. Der Putin-Schock dürfte sich als der dritte grosse Rückschlag für die Globalisierung und die globalen Lieferketten in den letzten Jahren erweisen, nach dem Handelskrieg zwischen den USA und China sowie den Unterbrechungen der Lieferketten im Zusammenhang mit Covid. All diese Erfahrungen werden Unternehmen weiterhin dazu veranlassen, ihre Aktivitäten in Richtung auf mehr Widerstandsfähigkeit, mehr lokale Produktion, einen höheren Bestand an Lagerbeständen und damit wahrscheinlich ein geringeres gesamtwirtschaftliches, potenzielles Wachstum in den kommenden Jahren neu zu organisieren. Unmittelbarer werden Lieferunterbrechungen, selbst wenn sie nur vorübergehend sind, zu einem Wachstumseinbruch führen, der unserer Meinung nach in Europa am ausgeprägtesten und in den USA und anderen Regionen moderat sein wird. Eine Rezession in Europa dürfte jedoch aufgrund massiver Fiskalprogramme, Militärausgaben und Investitionen des Privatsektors in die Energieinfrastruktur sowie in die Cybersicherheit vermieden werden.
Stefan KreuzkampDer wirtschaftliche Schaden wird wahrscheinlich nachhaltigere Auswirkungen auf die russische Wirtschaft haben und den russischen Lebensstandard mittel- bis langfristig erheblich senken.
Der wirtschaftliche Schaden wird wahrscheinlich nachhaltigere Auswirkungen auf die russische Wirtschaft haben und den russischen Lebensstandard mittel- bis langfristig erheblich senken. Aber obwohl wir glauben, dass es Veränderungen innerhalb des Systems des brutalen, korrupten und zunehmend autoritären Regimes geben könnte, das Putin in den letzten 20 Jahren aufgebaut hat, würden wir davor warnen, auf Volksaufstände oder sichtbare Palastrevolten zu setzen. Stattdessen geht unser Basisszenario eher davon aus, dass Russlands derzeitige Machthaber das Land und die russische Gesellschaft fest, wenn auch noch repressiver, im Griff behalten werden. Die Macht innerhalb dieses Systems kann sich jedoch durchaus auf diejenigen verlagern, die über einschlägiges Fachwissen verfügen, wie die Folgen der Invasion in der Ukraine minimiert werden können. Dies sollte ebenso wie westliche Sanktionen und das Potenzial eines mässigenden Einflusses von Russlands verbleibenden ausländischen Verbündeten, einschliesslich China, schliesslich den Weg zu einer Art Waffenstillstand ebnen. Im Laufe der kommenden Wochen und Monate hoffen wir auf eine langsame Entspannung und Verhandlungen, was dazu führen wird, dass einige der westlichen Sanktionen möglicherweise in den nächsten 12 Monaten zumindest teilweise wieder aufgehoben werden.
Markt- und politische Auswirkungen
Eine unserer entscheidendsten Annahmen für das Hauptszenario ist, dass wir nicht von einer signifikanten Verschärfung der Finanzbedingungen ausgehen. Wir rechnen im Ernstfall damit, dass es zu entschlossenen Interventionen von Zentralbanken und anderen Behörden kommen wird, um den Stress im Finanzsystem zu lindern. Die US-Notenbank Federal Reserve (Fed) scheint ihren Kurs beizubehalten, die höheren Inflationserwartungen durch steigende Zinsen zu bekämpfen. Angesichts des deutlich breiteren Inflationsdrucks erwarten wir in diesem Jahr mehrere Anhebungen des Leitzinses. Pläne für Quantitative Tightening, also das Rückfahren der Bilanzsumme nach den Anleihekäufen der Fed der letzten Jahre, könnten jedoch zurückgefahren, verschoben oder ganz abgesagt werden, wenn sich die Finanzlage verschlechtert oder andere Anzeichen von Stress im System auftreten. Noch mehr als die Fed wird die Europäische Zentralbank (EZB) in einem datenabhängigen Modus verharren. Angesichts zahlreicher wirtschaftlicher Abwärtsrisiken dürfte ihre unmittelbare Priorität eher die Bekämpfung von Rezessions- und Finanzstabilitätsrisiken als Inflationsdruck liegen, zumal letzterer noch nicht so breit angelegt ist wie in den USA. Zu bedenken ist auch, dass es innerhalb der Eurozone grosse Unterschiede hinsichtlich des Ausmasses der Abhängigkeit von russischen Gasimporten, der Schnelligkeit mit der sich höhere Energiepreise auf die Verbraucherpreise auswirken und kompensatorischer Binneneffekte gibt. In jedem Fall erwarten wir eine vorsichtige Geldpolitik, bis weitere Daten verfügbar sind, mit der Möglichkeit, dass sich die Beendigung der Netto-Wertpapierkäufe der EZB verzögern könnte. Mehr Flexibilität bei der Verwendung von Reinvestitionen fälliger Anleihen, die im Rahmen des Pandemie-Notfallkaufprogramms (PEPP) und des vorangegangenen Wertpapierkaufprogramms (APP) gekauft wurden, könnte bei Bedarf ebenfalls möglich sein. Innerhalb unseres 12-monatigen Prognosehorizonts erwarten wir nun nur noch eine Zinserhöhung, was eine viel zaghaftere Kehrtwende in der Geldpolitik bedeuten würde, als wir es noch vor einigen Wochen erwartet hätten. Angesichts der beschriebenen monetären Reaktionsfunktionen sind die Änderungen unserer Zinsprognosen für die Renditen von Staatsanleihen im Vergleich zu vor zwei Wochen tatsächlich recht bescheiden insbesondere für US-Staatsanleihen. Und das obwohl unsere US-Zinsprognosen eine sehr grosse Bandbreite potenzieller politischer, militärischer und Inflationsszenarien berücksichtigen, die wir modelliert haben. Man sollte sich jedoch von dieser scheinbaren Stabilität bei nominellen Zinsniveaus nicht täuschen lassen: Je nachdem, wie schwerwiegend und nachhaltig sich die Energieunterbrechungen erweisen, variieren die realen Renditen und Inflationserwartungen, die die Breakeven-Raten untermauern, stark und könnten sich auch als recht volatil erweisen. Sobald die konjunkturellen Risiken wieder abnehmen, dürften auch die Nominalzinsen zunächst moderat steigen, während umgekehrt eine weitere Verschlechterung über das, was wir und die Märkte derzeit erwarten, trotz Inflationsdruck zu Zinsrückgängen führen könnte. Beide Muster hätten natürlich auch deutliche Auswirkungen auf andere Anlageklassen.
Auswirkungen auf die Anlageklasse
- Anleihen und Währungen: Kurzfristig dürften die Renditen von Staatsanleihen weiterhin im Spannungsfeld zwischen konjunkturellen Risiken, steigendem Inflationsdruck, einer insgesamt weiterhin expansiver Geldpolitik und massiv steigender Staatsverschuldung stehen. Auf Sicht von 12 Monaten rechnen wir jedoch weiterhin mit einem moderaten Anstieg der Nominalrenditen. Unsere Prognosen für die Spreads von Unternehmensanleihen wurden angesichts der jüngsten Entwicklungen nach oben revidiert, jedoch sehen wir in den nächsten 12 Monaten Potenzial für eine erneute Einengung der Spreads. Unter Rendite-Risiko-Gesichtspunkten erscheinen uns asiatische Unternehmensanleihen am attraktivsten. Wir gehen davon aus, dass sich der US-Dollar stark bleiben wird, wobei die 12-Monats-Prognose gegenüber dem Euro von 1,20 auf 1,15 angehoben wird.
- Aktien: Kurzfristig sehen wir bei Aktien zwar weiterhin gute Gründe zur Vorsicht, die Märkte sollten jedoch in den nächsten Monaten einen Boden finden und dann wieder steigen, unterstützt durch anhaltend negative Realrenditen und eine Erholung der Wirtschaft. Dividenden, d. h. vergleichsweise inflationssichere, laufende Erträge, könnten sich in einem Umfeld höherer Inflation, mittelfristiger Inflationsunsicherheiten und Mangel an tragfähigen Alternativen ebenfalls als attraktiv erweisen. Zu Bedenken ist allerdings, dass es sich bei unseren Zielen um Punktprognosen aus einer 12-Monats-Perspektive handelt, mit einem ungewöhnlich breiten Spektrum möglicher Ergebnisse und dem Potenzial für viel Volatilität angesichts der oben beschriebenen Unsicherheiten.
- Alternative Anlagen: Sowohl bei den Öl- als auch bei den Goldpreisen hat Russlands Invasion in die Ukraine die geopolitischen Risikoprämien, die in die Preise eingebettet sind, kurzfristig ausgeweitet. Noch ist es viel zu früh, um vorherzusagen, wie schnell Spitzen erreicht werden und wie lange sie andauern könnten, bevor mit Rückgängen gerechnet werden kann. Kurzfristig dürften die weltgrössten Rohölproduzenten weder gewillt noch in der Lage sein, das Angebot in ausreichendem Ausmass zu erhöhen. Das wird das fordere Ende der Futures-Kurve weiterhin auf ein ungewöhnlich hohes Niveau treiben, bei dem die weltweite Nachfragezerstörung unvermeidlich erscheint. Das wiederum verheisst nichts Gutes für die Zukunft der Rohölpreise. Wenn zusätzliche Sanktionen gegen russische Importe verhängt werden, werden 60 Millionen Barrel an strategischen Erdölreserven nicht annähernd ausreichen, um 7,8 Millionen Barrel pro Tag an russischen Exporten von Rohöl und Ölprodukten auszugleichen. Erhöhte geopolitische Risikoprämien dürften auch dazu führen, dass Gold kurzfristig über dem fairen Wert gehandelt wird. Längerfristig dürften die US-Zinserhöhungen jedoch etwas Gegenwind für Gold erzeugen, was die Veränderungen der Realrenditen und des US-Dollars zu zusätzlicher Unsicherheit führt.
- ESG-Auswirkungen: Die Krise dürfte als zusätzlicher Weckruf für Anleger dienen, ESG-Risiken ernst zu nehmen. Russische Vermögenswerte werden seit langem mit Abschlägen gehandelt, was sowohl Umwelt- als auch Governance-Bedenken widerspiegelt. Ihr Zusammenbruch in den letzten Wochen verdeutlicht jedoch, wie schwerwiegend die Auswirkungen solcher Risiken sein können, wenn sie tatsächlich vollständig eingepreist werden.