Der Immobiliensektor bleibt vorderhand Chinas Achillesferse
Ein Grossteil der jüngsten Berichterstattung über China bezog sich auf die langsamer als erwartet verlaufende wirtschaftliche Erholung und das Risiko einer Deflation. Die Sitzung des Politbüros im Juli hatte ursprünglich Hoffnungen in Bezug auf ein günstigeres politisches Umfeld geweckt. Die anschliessende Aktienrallye wurde jedoch durch die Nachricht einer verspäteten Kuponzahlung des Immobilienentwicklers Country Garden und dem Konkursantrag von Evergrande in den USA gedämpft. Diese Ereignisse liessen Sorgen über vom Immobiliensektor ausgehende Risiken für die gesamte chinesische Wirtschaft wieder aufleben.
Verständlicherweise sind Anleger über den Immobiliensektor besorgt, der einen erheblichen Anteil an der chinesischen Wirtschaft ausmacht. Nach dem historisch längsten Immobilienpreisrückgang besteht die Gefahr einer Abwärtsspirale aus nachlassendem Vertrauen und Verkäufen. Dies hätte negative Auswirkungen auf die Kreditvergabe und das gesamte Wirtschaftswachstum.
Virginie Maisonneuve, Global CIO Equity, Allianz Global InvestorsDer jüngste Bericht über ausbleibende Zahlungen der zum chinesischen Schattenbankensystem gehörenden Zhongrong Trust hat Besorgnis über Ansteckungseffekte vom Immobiliensektor auf die Gesamtwirtschaft ausgelöst.
Die Herausforderung besteht in einer Gratwanderung zwischen der Unterstützung des Immobiliensektors und der Vermeidung einer neuen Vermögenspreisblase. Aus gutem Grund ist die chinesische Regierung mit Blick auf die Ankündigung eines Konjunkturpakets zurückhaltend, da sich hierdurch der Verschuldungshebel wieder vergrössern könnte. Um den Marktpessimismus zu durchbrechen und den Immobilienmarkt aus der Abwärtsspirale herauszuziehen, kommt es nun allerdings darauf an, ein klares Signal einer starken und geeigneten Unterstützung zu geben. Der Immobiliensektor hat massgeblich zum wirtschaftlichen Erfolg Chinas beigetragen, doch steht ihm nun eine Phase des strukturellen Rückgangs bevor. Dies ist grösstenteils das Ergebnis demografischer Entwicklungen: Alterung der Bevölkerung und eine sich verlangsamende Land-Stadt-Flucht. Kurz gesagt, es wird weniger Wohnraum benötigt. Langfristig gesehen muss sich China vom gehebelten, schuldenfinanzierten Wohnungsbau verabschieden und sich stärker diversifiziert auf künftige Wachstumstreiber – etwa im Technologiebereich – sowie der Entwicklung einer moderneren, autarken Produktionsbasis konzentrieren. Auf kurze Sicht erwarten wir keinen extremen Abschwung auf dem Immobilienmarkt – es dürften hinreichend Ressourcen mobilisiert werden, um dies zu verhindern. In den letzten zwei Jahren wurden bereits konkrete Initiativen zur Ankurbelung des angeschlagenen Sektors ergriffen: niedrigere Hypothekenzinsen, die Lockerung früherer Beschränkungen für Immobilientransaktionen und direkte Finanzierungshilfen für Bauträger. Das systemische Risiko für die Gesamtwirtschaft sollte daher als gering einzuschätzen sein. Mittel- bis längerfristig muss das Land allerdings einen abnehmenden Wachstumsbeitrag des Immobiliensektors kompensieren.
Privat- und Dienstleistungssektor im Blickpunkt
Anstelle des Immobiliensektors dürften daher künftig die Privatwirtschaft und insbesondere der Dienstleistungssektor im Mittelpunkt der langfristigen Wachstumsambitionen Chinas stehen. Dem Privatsektor kommt eine wichtige Rolle bei der Korrektur struktureller Ungleichgewichte zu, vor allem die Jugendarbeitslosigkeit stellt in China ein grosses Problem dar. Jüngsten offiziellen Angaben zufolge lag die Jugendarbeitslosigkeit in der Altersgruppe der 16- bis 24-Jährigen im Juni bei 21 Prozent. Aufgrund ihrer pessimistischen Implikationen und der Neigung zu Missverständnissen angesichts der nuancierten Berichtsmetriken in China wird diese Zahl nun nicht weiter veröffentlicht. Der privatwirtschaftliche Sektor in China ist entscheidend für die Schaffung von mehr sowie höher qualifizierten und somit besser bezahlten Arbeitsplätzen, die für Chinas hochqualifizierte Jugend attraktiv sind. Der Schlüssel zur Bewältigung der Arbeitsmarkt-Herausforderungen wird daher die Verlagerung auf höherwertige, stärker innovationsgetriebene Sektoren sein. Gleichzeitig muss – ähnlich wie seinerzeit in Korea und Taiwan – die Produktivität gesteigert und ein nachhaltiger Wachstumspfad eingeschlagen werden. In den letzten Monaten haben die politischen Entscheidungsträger eine stärkere Unterstützung für Internetplattformen signalisiert – ein Bereich, der von privaten Unternehmern dominiert wird und Beleg chinesischer Innovationskraft und Agilität ist. Durch die Unterstützung und Förderung privater Unternehmer – nicht nur im Internetsektor, sondern auch in innovationsfreudigen Branchen wie Elektromobilität, grüne Energie und Technologie, Biotech- und Arzneimittelinnovationen u.a. – könnte China skalierbare Produktivitätssteigerungen erzielen. Dies würde helfen, das schleppende Wachstum entlang der gesamten wirtschaftlichen Wertschöpfungskette anzukurbeln. All dies würde sich zunächst auf dem heimischen Markt abspielen, könnte sich aber später auch auf die globalen Märkte ausweiten. China hat bereits mehrfach seine Fähigkeit unter Beweis gestellt, Produkte und Dienstleistungen auszuarbeiten, die den Bedürfnissen und Wünschen einer zunehmend vernetzten Weltbevölkerung entsprechen.
Schattenbankwesen und Einflussnahme der lokalen Behörden
Der jüngste Bericht über ausbleibende Zahlungen der zum chinesischen Schattenbankensystem gehörenden Zhongrong Trust hat Besorgnis über Ansteckungseffekte vom Immobiliensektor auf die Gesamtwirtschaft ausgelöst. Sogenannte Trust-Produkte sind eine Schlüsselkomponente des chinesischen Schattenbankensektors, der eine Finanzierungsquelle für Bauträger minderer Qualität und lokale staatliche Finanzierungsgesellschaften (LGFVs) darstellt. Die Liquiditätsprobleme von Zhongrong Trust könnten mit den Besicherungen von Bauträgerkrediten sowie damit verbundenen Finanzierungsschwierigkeiten der LGFVs zusammenhängen. Insgesamt beläuft sich das verwaltete Vermögen der chinesischen Trust-Branche auf rund 21 Billionen RMB (2,6 Billionen EUR), von denen rund acht Prozent in Immobilien (1,7 Billionen RMB/EUR 214 Milliarden) und rund 11 Prozent in LGFVs (2,2 Billionen RMB/ 277 Milliarden EUR) investiert sind. Die Branche ist somit zwar nicht insignifikant, macht aber nur etwa fünf Prozent des chinesischen Finanzsystems mit einem Volumen von 400 Billionen RMB aus. So betrachtet erscheint auch ist der gemeldete Fehlbetrag (90 Mio. RMB/EUR 11 Mio.) aktuell beherrschbar. Es ist davon auszugehen, dass die Aufsichtsbehörden die Risiken auf dem Trust-Markt überwacht haben und bei Bedarf Verluste von Kleinanlegern abmildern werden. Die grössere Sorge gilt etwaigen Finanzierungsschwierigkeiten für LGFVs, sollte es zu weiteren Ausfällen von Trust-Produkten kommen. Die Verschuldung der chinesischen Gebietskörperschaften lag Ende 2022 bei schätzungsweise 108 Billionen RMB (13,6 Billionen EUR) oder 90 Prozent der Wirtschaftsleistung. Ein Silberstreif am Horizont ist dabei allerdings, dass der Verschuldungsgrad der Zentralregierung niedrig ist. Insgesamt existiert damit ein dicker Puffer für die Sanierung der Bilanzen der lokalen Regierungen. In diesem Zusammenhang stimmt auch die Politbüro-Sitzung vom Juli positiv, auf der als eine der wichtigsten politischen Massnahmen die Umsetzung einer umfassenden Lösung für die Verschuldung der Kommunalverwaltungen gefordert wurde. Dies spiegelt eine Verlagerung des Politikschwerpunkts wider – weg von der Bewältigung von Moral-Hazard-Problemen der Kommunalbeamten hin zur Vermeidung einer weiteren Vertrauenskrise aufgrund von Zahlungsausfällen. Die chinesische Regierung wird sich bemühen, die Wirtschaft auf einen starken und nachhaltigen Wachstumspfad zu steuern, der sich weniger auf Verschuldung stützt. Das beinhaltet gezielte Massnahmen zur langfristigen Umgestaltung sowohl der Kapital- als auch der Immobilienmärkte. Entscheidend wird dabei sein, was mit den übermässigen Ersparnissen der chinesischen Haushalte geschieht – Stichwort Bankeinlagen in Rekordhöhe. Und dies wiederum hängt eng mit dem Vertrauen der Privaten in die Wirtschaft zusammen.
Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft
Die wirtschaftliche Erholung Chinas wird wahrscheinlich nicht geradlinig verlaufen, und die Volatilität der Aktienmärkte wird anhalten. Dennoch bewegt sich die Regierung in die richtige Richtung und es ist davon auszugehen, dass sich der Trend zur Erholung fortsetzen wird. Dies gilt vor allem, wenn die Regierung konkretere Unterstützungsmassnahmen ergreift, was wiederum zu einer deutlichen Verbesserung des Vertrauens an den Finanzmärkten führen dürfte. Als Anleger konzentrieren wir uns weiterhin auf die Bereiche des Marktes, in denen wir strukturellen Rückenwind für das Wachstum sehen. Trotz des makroökonomischen Gegenwinds in China sind diese Bereiche auf der Bottom-up-Ebene reichlich vorhanden: künstliche Intelligenz (KI), Big Data und Digitalisierung, Elektromobilität, industrielle Modernisierung, ausgewählte inländische Konsumtrends, Nutzniesser von Finanzmarktreform oder auch grüne Technologien und erneuerbare Energien. Aktuell bewegen sich die Bewertungen auf niedrigen Niveaus. Aktive Asset Manager können daher die Marktschwäche nutzen, um selektiv Positionen aufzubauen. Während viele Marktteilnehmer im aktuellen Stimmungsumfeld verkaufen, konzentrieren wir uns daher auf Qualitätsunternehmen, die in der Lage sein sollten, über den Zyklus hinweg ein nachhaltiges Ertragswachstum zu erzielen und dabei von Investitionen in Innovationen und Produktivitätssteigerungen zu profitieren.