Europas (manchmal) übersehene Industriechampions
Das globale Wirtschaftswachstum verharrt gegenwärtig auf einem eher gemässigten Niveau und auch eine kräftige Erholung der Wirtschaft in China lässt derzeit noch etwas auf sich warten. Das Umfeld für europäische, oftmals exportorientierte Unternehmen ist daher zugegebenermassen nicht ideal. Doch entgegen den erschwerten Bedingungen werden einige europäische Industriechampions auch 2024 an ihrem Wachstumskurs festhalten können. Denn sie profitieren von strukturellen Trends, die den konjunkturellen Gegenwind abmildern und in einigen Fällen sogar überkompensieren können.
Drei Faktoren sind hier besondere Treiber der positiven Aussichten dieser Industriechampions: die voranschreitende Elektrifizierung, die Zunahme von Rechenzentren sowie die weitere Digitalisierung von Industrieprozessen.
Elektrifizierung des Energiemixes
Die ambitionierten globalen CO2-Ziele erfordern ein neues Denken und vor allem neue Wege, um den Energiemix zügig zu optimieren. Die Internationale Energie Agentur (IEA) geht davon aus, dass derzeit etwa 20% des gesamten weltweiten Energieverbrauchs auf Elektrizität entfallen. Es bestehen zwar unterschiedliche Szenarien hinsichtlich der künftigen Reduktion von fossilen Energieträgern, jedes dieser Szenarien sieht aber eine erhebliche Substitution dieser Brennstoffe durch Strom vor. Für ein Netto-Null-Szenario, in dem bis 2050 Treibhausemissionen auf null reduziert werden sollen, erwartet die IEA in den nächsten sechs Jahren bis 2030 einen Anstieg des Elektrizitäts-Anteils um 8 Prozentpunkte.
Christoph Berger, Chief Investment Officer Equity Europe, Allianz Global InvestorsViele europäische Industrieunternehmen sind durchaus in der Lage, auf Augenhöhe mit ihren US-amerikanischen Wettbewerbern zu konkurrieren.
Ganz unabhängig davon, welches Szenario sich hinsichtlich der Energieziele schlussendlich durchsetzt: Sowohl die Staaten als auch Unternehmen werden weiter an einer Verbesserung ihres Energiemixes interessiert sein. Parallel zu dieser steigenden Nachfrage entwickelt sich die Kapazität an erneuerbaren Stromquellen weiter. 2023 sollen laut IEA bereits 500 Gigawatt an erneuerbaren Stromkapazitäten hinzugekommen sein. Der Weg vom Erzeuger zum Verbraucher wird tendenziell länger. Sowohl die Schwankungen in der Erzeugung durch die regenerativen Energiequellen der regenerativen Energiequellen aber auch der laufend steigende Strombedarf – angetrieben etwa durch die Zunahme von Rechenzentren, intelligenter Industrie und intelligenten Häusern – machen umfangreiche Investitionen in neue elektrische Infrastrukturen erforderlich. Und viele europäische (Industrie-)Unternehmen sind hier bereits gut aufgestellt – oder stellen sich bereits entsprechend auf – um mit ihren Lösungen von diesem Wandel zu profitieren. Das reicht etwa von Sektoren wie Elektrotechnik mit Unternehmen wie Schneider Electric bis hin zu wie Kabelherstellern wie Prysmian.
Rechenzentren im Fokus
Der Aufschwung Cloud-basierter Dienste und künstlicher Intelligenz treibt weltweit bereits seit geraumer Zeit das Wachstum von Rechenzentren voran. Allein in den USA wird für dieses Segment davon ausgegangen, dass sich der Strombedarf bis 2030 verdoppelt. Die französische Schneider Electric schätzt zudem, dass der Stromverbrauch von Rechenzentren im Zusammenhang mit KI-Aufgaben von 4,5 GW im Jahr 2023 auf 14 bis 19 GW im Jahr 2028 ansteigen wird. Das entspräche einer durchschnittlichen jährlichen Wachstumsrate von 25% bis 33%. Betreiber von Rechenzentren werden darum bemüht sein, einen zunehmenden Anteil ihres Stromverbrauchs über regenerative Energien zu decken. Dafür schliessen sie langfristige Verträge mit Energielieferanten und Anbietern von Energiemanagement-Lösungen ab, was Dienstleistern in diesen Segmenten neue Chancen eröffnet. Rechenzentren mit einer hohen KI-bezogenen Arbeitslast erfordern zudem einen speziellen Aufbau, bei dem die Luftkühlung ungeeignet ist und neue Kühlungsformen, etwa durch Flüssigkeitskühlung, gesucht werden. Europa verfügt auch in diesen Bereichen über einige Marktführer, die sowohl die entsprechenden Server- und Kühlungslösungen als auch weitere Grundlagentechnologien wie etwa Energie-Monitoring und Software für die Verwaltung der Rechenzentrumsinfrastruktur (Data Center Infrastructure Management, DCIM), anbieten.
Industrie digitalisiert sich weiter
Die Grenzen zwischen Industrie- und Softwareunternehmen verschwimmen zunehmend und einige europäische Industrieunternehmen haben sich in diesem Zuge gut am Markt positioniert, zum Beispiel wenn es um Technologien für eine effizientere Produktentwicklung und -produktion geht. Insbesondere die Anbieter von Software und Systemen für das Product Lifecycle Management (PLM), mit denen sich die Produktentwicklungsprozesse oft erheblich verkürzen lassen, weisen starke Wachstumsraten auf. Neben einigen neueren Anbietern sind hier auch etablierte Unternehmen mit jahrzehntelanger Erfahrung aktiv. So ist beispielsweise Siemens nach eigenen Angaben Weltmarktführer für Programmable Logic Controler (PLCs). Das erlaubt eine nahtlose Integration von innovativer Software in die physische Fertigung. In der globalen Perspektive wird jede dritte Maschine durch einen Siemens PLC gesteuert. In einem sich dynamisch entwickelnden Sektor spricht dieser Marktanteil für ein grosses Fachwissen, das sich das Unternehmen, aber auch andere Industrieunternehmen in Europa über viele Jahre lang aneignen konnten und künftig ausspielen können.
Potenzial ist da
Auch wenn es der vielfach in Moll gehaltene Tenor dieser Tage nicht immer erahnen lässt – viele europäische Industrieunternehmen sind durchaus in der Lage, auf Augenhöhe mit ihren US-amerikanischen Wettbewerbern zu konkurrieren. Beleg dafür sind ihre mitunter zweistelligen Umsatzzuwächse. Und auch mittelfristig bieten strukturelle Veränderungen weiteres Potenzial für viele europäische Anbieter. Damit verbunden eröffnen sich auch für Anleger Chancen, die von Treibern wie der Energiewende, den kommenden Generationen von Künstlicher Intelligenz und der Industrieautomatisierung profitieren können. Sicherlich werden diese Treiber das kollektive Wachstum der europäischen Industrie nicht im Alleingang sicherstellen können. Doch auch Europa wird über Profiteure der Energiewende und Technologie-Revolution verfügen.