Brasilien: Debatte um Inflationsziel entwickelt sich zum Streitpunkt
Nach ungefähr zwei Monaten im Amt ist Präsident Luiz Inácio Lula da Silva bestrebt, das Erbe der Vorgängerregierung zu beseitigen und die wirtschaftliche Lage seiner ersten Amtszeit im Jahr 2003 wiederherzustellen. Letzteres wäre eine gute Nachricht für ausländische Investoren, wenn man bedenkt, wie gut brasilianische Vermögenswerte damals abgeschnitten haben.
Von Ende 2002 bis Ende 2010 erzielten brasilianische Aktien eine erstaunliche jährliche Rendite von +37% in US-Dollar (gemessen am MSCI Brazil Total Return Index), wovon +10% pro Jahr auf die Aufwertung des brasilianischen Real zurückzuführen waren – nicht schlecht für einen angeblich marktfeindlichen Staatschef und Bewunderer von Fidel Castro und Hugo Chávez. Man könnte dem entgegenhalten, dass Lula Glück hatte und dass die aussergewöhnliche Wertentwicklung brasilianischer Vermögenswerte vor allem auf den Aufstieg Chinas zur Wirtschaftssupermacht zurückzuführen war, der die Preise für die Rohstoffe in die Höhe trieb, die Brasilien im Überfluss exportiert (insbesondere Eisenerz). Man könnte sich auch auf die so genannten Basiseffekte berufen, da die Bewertungen zu Beginn der 2000er Jahre nach den Asien- und Lateinamerika-Krisen Mitte bis Ende der 1990er Jahre besonders niedrig waren. Betrachtet man das reale Wachstum des Pro-Kopf-BIP, so war Brasilien unter den Schwellenländern alles andere als glänzend. Mit einem kumulierten Wachstum von 25% in acht Jahren schnitt Brasilien nur gegenüber den stagnierenden Ländern Südafrika und Mexiko besser ab, während Indonesien, Peru, Polen, Russland und der ewige Rivale Argentinien in Kaufkraftparität fast doppelt so schnell wuchsen (nach Berechnungen des IWF).
Thierry Larose, Portfolio Manager, VontobelDie Argumentation, Brasiliens Inflationsziel von 3% sei nicht mit den Standards der Schwellenländer vereinbar, ist ein reiner Trugschluss. Viele andere Schwellenländer wie China, Indonesien, Mexiko, Kolumbien, Chile und Ungarn haben das gleiche Ziel.
Auch wenn dies alles wahr ist, muss man anerkennen, dass Lula nur wenige Fehler gemacht hat und klug genug war, die Schlüsselpositionen seiner Regierung mit kompetenten Leuten zu besetzen. Einer von ihnen war Henrique Meirelles, der Präsident der brasilianischen Zentralbank. Meirelles genoss acht Jahre lang Lulas Vertrauen, und Lula betrachtet ihn immer noch als Beispiel für einen Zentralbanker, der grossartige Arbeit geleistet hat, indem er über sein Mandat der Inflationsbekämpfung hinausging und sich um das Wachstum der Wirtschaft kümmerte. Und genau das wirft Lula nun Roberto Campos Neto vor – dem derzeitigen Präsidenten der Zentralbank, der Ende 2018 vom ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro ernannt wurde. Präsident Lula wird daher wahrscheinlich jede Gelegenheit nutzen, um die Art und Weise, wie er die Geldpolitik führt, in Frage zu stellen und zu bekämpfen. Da die Autonomie der Zentralbank derzeit nicht auf dem Spiel steht, weil es keine Mehrheit für ihre Aufhebung im Kongress gibt, konzentrieren sich die Angriffe auf zwei Fronten: Warum hält die Zentralbank die Realzinsen so hoch (~8%) und warum ist das Inflationsziel so niedrig (3% +/- 1,5 Prozentpunkte). Die Argumentation, Brasiliens Inflationsziel von 3% sei nicht mit den Standards der Schwellenländer vereinbar, ist ein reiner Trugschluss. Viele andere Schwellenländer wie China, Indonesien, Mexiko, Kolumbien, Chile und Ungarn haben das gleiche Ziel. Ausserdem ist die Behauptung zweifelhaft, dass ein höheres Inflationsziel die Finanzierungsraten senken und Kredite für kleine Unternehmen und Haushalte erschwinglicher machen würde. Tatsächlich hätte ein solcher Schritt den gegenteiligen Effekt auf die langfristigen Nominalzinsen, die eine höhere Inflationsprämie (die so genannte Break-Even-Inflationsrate) erfordern würden. Und was den Transmissionsmechanismus betrifft, so werden die Unternehmenszusammenbrüche von Lojas Americanas, Light, Oi und Gol die Verfügbarkeit von Krediten über Jahre hinweg stark beeinträchtigen und die Finanzierungssätze auf einem sehr hohen Niveau halten, unabhängig davon, wo die Zentralbank den Interbanken-Tagesgeldsatz festlegt.
Was die hohen realen Zinssätze betrifft, so ist die Inflation in den Schwellenländern häufig ein fiskalisches Phänomen, und niemand weiss genau, wie die Finanzpolitik in Brasilien aussehen wird, um den grossen Finanzierungsbedarf der angekündigten ehrgeizigen Sozialprogramme zu decken. Es besteht die Gefahr, dass Finanzminister Haddad eher auf eine Erhöhung der Einnahmen als auf Ausgabenkürzungen abzielen wird – eine Strategie, deren Ergebnisse weniger sicher sind als die der Alternative. Darüber hinaus ist das neutrale Niveau der Realzinsen in Brasilien aus strukturellen Gründen besonders hoch, z.B. wegen des geringen potenziellen BIP-Wachstums, das schnell zu inflationären Überschreitungen führt, der geringen inländischen Ersparnisse und der übermässigen Haushaltsausgaben. Die Kerninflation ist nach wie vor hoch (fast 9%), da ein Grossteil der jüngsten Disinflation auf Steuersenkungen und niedrigere Lebensmittel- und Energiepreise zurückzuführen ist.
Thierry LaroseWas die hohen realen Zinssätze betrifft, so ist die Inflation in den Schwellenländern häufig ein fiskalisches Phänomen, und niemand weiss genau, wie die Finanzpolitik in Brasilien aussehen wird, um den grossen Finanzierungsbedarf der angekündigten ehrgeizigen Sozialprogramme zu decken.
Daher sind Klagen über hohe Zinssätze und Sparmassnahmen unangebracht, wenn man sich die Situation im Jahr 2003 vor Augen führt: Vor zwei Jahrzehnten, als die Zentralbank mit einem sich verschlechternden Haushaltsdefizit und einer Gesamtinflation von 12,5% konfrontiert war, erhöhte sie den SELIC-Referenzsatz auf 26,5%, um die realen Zinssätze deutlich über ihrem neutralen Niveau zu halten. Und das hat funktioniert. Mit Hilfe der verantwortungsvollen Finanzpolitik des damaligen Finanzministers Antonio Palocci sank die Inflation von einem Höchststand von mehr als 17% im März 2003 auf fast 5% im Mai 2004.
Warum sollte Präsident Lula also der Meinung sein, dass dieses einst erfolgreiche Rezept dieses Mal nicht mehr angebracht ist? Weil er vermutet, dass Herr Campos Neto und sein Team gegen ihn agieren, als Teil einer bolscharistischen Agenda, die darauf abzielt, ihm einen Strich durch die Rechnung zu machen. Dies scheint jedoch nicht der Fall zu sein. Unter der Präsidentschaft Bolsonaros erlebte der SELIC-Satz eine wahre Achterbahnfahrt: Er sank mitten in der Covid-Pandemie von 6,5% auf 2% und endete bei 13,75%, wobei die letzte Zinserhöhung mitten im Präsidentschaftswahlkampf 2022 erfolgte – nicht gerade die beste Unterstützung, die sich Bolsonaro von einem politischen Verbündeten wünschen konnte. Campos Neto mag ein enger Freund von Ex-Wirtschaftsminister Paulo Guedes und ein Unterstützer von Jair Bolsonaro sein, aber es ist ziemlich gewagt zu behaupten, dass seine Geldpolitik durch eine obskure politische Agenda beschmutzt ist.