Ukraine-Invasion: Die Friedensdividende schmilzt dahin
Die geopolitische Unsicherheit bleibt im historischen Vergleich hoch. Der Angriff Russlands auf die Ukraine erhöht kurzfristig nicht nur die Nervosität der Anleger bzw. reduziert deren Risikoappetit; höhere Energiekosten, und bei hoch bleibender Inflation höhere Finanzierungskosten über Zinserhöhungen, können auch die rekordhohen Unternehmensgewinnmargen wieder sinken lassen. Zudem ist die sogenannte «Friedensdividende» der vergangenen 30 Jahre in Gefahr.
Geopolitische Themen sind nicht neu, nur waren sie uns in jüngerer Zeit noch selten so nah. Der Einmarsch Russlands in die Ukraine erhöht dabei das Stagflationsrisiko – also das Risiko von weniger oder stagnierendem Wirtschaftswachstum und erhöhter Inflation bedingt durch hohe Energiepreise – deutlich mehr als die Krim-Annexion im Jahr 2014. Ein Blick auf einige Fakten relativiert allerdings Russlands ökonomische Bedeutung: In Europa sind die osteuropäischen Staaten wirtschaftlich am meisten mit Russland verflochten. In der gesamten Europäischen Union (EU) sind hingegen nur knapp 1,5% der Wirtschaftsaktivität von Russland direkt abhängig, in Deutschland rund 2%. Bei den europäischen Branchen macht die Nachfrage von Russland bei zyklischen Sektoren zwar einen höheren Anteil aus als bei defensiven Sektoren. Doch die indirekte Wirkung von Wirtschaftssanktionen gegen Russland ist wichtiger als die direkten Wirtschaftsverflechtungen.
Russland ist nicht nur eine führende Militärmacht, sondern vor allem auch ein wichtiger Rohstofflieferant. Hier zeigt sich ein anderes Bild: Rund 40% der russischen Ölexporte sowie 70% der russischen Gasexporte gehen nach Europa. Von den gesamten europäischen Rohstoffimporten stammen bei Erdgas knapp 40% aus Russland, bei Öl sind es rund 30%. Die im Mehrjahresvergleich in diesen Winter sehr geringen Gaslieferungen aus Russland nach Europa führen, zusammen mit den historisch tiefen Lagerbeständen Europas bei Öl und Gas, zu einem politischen «Hebel», der es Russland erlauben könnte, seine geopolitischen Interessen im Falle wirklich harter Sanktionen zu wahren. Wie wichtig Russland für Rohstoffe ist, zeigen auch folgende Zahlen: Von der gesamten globalen Produktion kommen beim für Katalysatoren bei Benzinautos wichtigen Palladium rund 40% aus Russland, bei Getreide rund 25% (Hauptkunden sind die Türkei und arabische Länder), bei Gas 17%, bei Erdöl 10% und bei Gold 9%.
Gérard Piasko, Chief Investment Officer, Maerki BaumannVerteidigung bzw. Defensive ist wieder mehr angesagt – in der Aktienausrichtung und in der Politik.
Und wie steht es um die sogenannte «Friedensdividende», also die durch das Ende des Kalten Krieges eingesparten Militärausgaben? Eine allmähliche Wiederaufrüstung Europas wird immer wahrscheinlicher. Auch eine neuerliche Phase des Wettrüstens zwischen Ost und West, ähnlich wie in den 1980er-Jahren, welche letztlich zum ökonomischen Kollaps der Sowjetunion führte, scheint realistisch. Diesmal ist Russland allerdings – zumindest kurzfristig – im Vorteil, da es rund 4% seines Bruttoinlandproduktes für das Militär aufwendet. Die EU-Länder hingegen investieren nicht 3% wie am Ende des Kalten Krieges, sondern bisher nur noch 1,5%. Diese gesparten Prozente bzw. Gelder konnten bisher in Europa für andere ökonomisch wichtige Ausgaben wie die Unterstützung der südeuropäischen Länder eingesetzt werden. Sie sind daher wirtschaftlich als eine «Friedensdividende» zu betrachten, die jetzt allerdings bald wieder schrumpfen könnte.
Die USA haben die anderen NATO-Länder in den letzten Jahren immer wieder auf ihren zu geringen Beitrag zur gemeinsamen militärischen Verteidigung hingewiesen. Der Schachspieler Putin sah darin offenbar eine Chance zu agieren, bevor die Wiederaufrüstung Europas einsetzt. Genau dies könnte aber ein Wettrüsten provozieren. Im Moment finanziert Russland die Invasion in der Ukraine über höhere Rohstoffpreise, besonders bei Gas und Erdöl, die zu erklecklichen Mehreinnahmen geführt haben.
Fazit
Die geopolitische Unruhe nach Russlands Angriff auf die Ukraine wirkt auf westliche Aktienmärkte nicht nur durch Nervosität (eine Abnahme des Risikoappetites), sondern auch über wirtschaftliche Wirkungen. Wichtiger als die direkten Verflechtungen sind dabei die indirekten Konsequenzen: Eine Erhöhung der Energiekosten könnte die Firmengewinnmargen sinken lassen. Die Profitabilität, die auf Rekordstände geklettert ist, könnte sich wieder reduzieren, auch durch höhere Finanzierungskosten über Zinserhöhungen bzw. aufgrund der öl- und gaspreisbedingten, hoch bleibenden Inflation. Zudem dürften die bisher dank historisch niedrigen Militärausgaben gesparten Gelder in der Wirtschaft im Falle einer Reduktion der «Friedensdividende» wieder abnehmen. Mehr Verteidigung bzw. Defensive ist also in jedem Sinn wieder angesagt, auch in der Aktienausrichtung über weniger Konjunktursensitivität.