ESG: Wandel funktioniert nicht durch Ideologie
Es braucht realistische Ziele und fundiertes Wissen. ESG darf kein Dogma sein, sondern kluges Risikomanagement.
Als ich in den späten 1990er-Jahren ins Berufsleben einstieg, sah die Welt noch ganz anders aus. Umweltverschmutzung war zwar bereits ein Thema, doch Begriffe wie ESG oder Nachhaltigkeit kamen in Gesprächen kaum vor. Schlagworte wie «Klimawandel» oder «Netto-Null» waren nahezu unbekannt – kaum jemand hätte erklären können, was sie bedeuten. Meine erste Stelle führte mich nach Italien zu einem Ingenieurbüro, das Anlagen für Ölraffinerien plante. Diese standen damals vor der Herausforderung, den Schwefelgehalt in fossilen Brennstoffen zu senken. Für mich als frisch diplomierte Chemieingenieurin vom Politecnico di Torino war das ein passender Einstieg. Ich begann meine Karriere in einer Branche, die heute im starken Kontrast zum Ideal der Nachhaltigkeit steht. Anders gesagt: Ich habe die «dreckige» Seite der Wirtschaft gesehen – und diese frühen Erfahrungen prägen bis heute mein Verständnis von Wandel. Denn echte Transformation entspringt nicht der Ideologie. Sie entsteht durch praktische Ziele, Forschung und Kompetenzaufbau.
Paola Bissoli, Direktorin Business Development, Aberdeen InvestmentsEchte Transformation entspringt nicht der Ideologie. Sie entsteht durch praktische Ziele, Forschung und Kompetenzaufbau.
Die Welt ist komplex. Es gibt zu viele Meinungen und zu wenige Fakten. Auch in der Finanzwelt basieren Entscheidungen oft auf Annahmen. Doch ich will verstehen – nicht nur glauben. Für mich ist es essenziell, die reale Welt mit der Finanzwelt zu verbinden. Risiken und Chancen werden häufig als abstrakte Möglichkeiten betrachtet, dabei sind ihre Auswirkungen in der Realität sehr konkret. Wenn wir neue Perspektiven einnehmen, fällt es leichter, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Deshalb sollten wir ESG-Analysen als eine solche Perspektive begreifen – sie helfen uns, komplexe, finanziell bedeutsame und reale Herausforderungen besser zu durchdringen.
Während meines Studiums habe ich den Wert analytischen Denkens gelernt. Ich strebe stets danach, den Dingen auf den Grund zu gehen. Deshalb schätze ich es sehr, in meiner heutigen Rolle auf fundiertes Wissen im Bereich Nachhaltigkeit zurückgreifen zu können. Wir setzen auf Forschung, entwickeln Rahmenwerke und Investment-Tools und integrieren Nachhaltigkeit in den Investmentprozess. Dieser pragmatische Ansatz verknüpft Risiken mit finanziellen und realwirtschaftlichen Konsequenzen – und eröffnet zugleich neue Chancen. Selbstverständlich sollten Anleger frei entscheiden können, ob sie in nachhaltige oder wirkungsorientierte Unternehmen und Projekte investieren möchten – und was «nachhaltig» für sie bedeutet. Für mich ist ESG keine moralische Lehre, sondern in erster Linie ein pragmatisches Instrument zur Identifikation und Steuerung von Risiken, die wir sonst übersehen würden. ESG zu ignorieren hiesse, grundlegende Geschäftsrisiken zu vernachlässigen. Umwelt- und Sozialfaktoren sind zwar erst in jüngerer Vergangenheit stärker in den Fokus gerückt – doch gute Unternehmensführung (Governance) war schon immer ein Grundpfeiler qualitativ hochwertiger Investments.
Paola BissoliEs ist möglich, Portfolio-Allokationen gezielt auf die Gewinner der Klimatransformation auszurichten – und die potenziellen Verlierer zu vermeiden.
Neue Forschung, verlässliche Daten, moderne Werkzeuge, Modelle und die Standardisierung von Kennzahlen ermöglichen heute Bewertungen, die noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen wären. Ein Beispiel: Analysen von Klimaszenarien zeigen, dass Klima-Risiken und -Chancen sowohl sektor- als auch aktienspezifisch sind. Besonders interessant ist dabei die grosse Streuung innerhalb einzelner Sektoren. Das bedeutet: Es ist möglich, Portfolio-Allokationen gezielt auf die Gewinner der Klimatransformation auszurichten – und die potenziellen Verlierer zu vermeiden. Darüber hinaus kann die Bewertung der Positionierung eines Unternehmens in Bezug auf Klimarisiken auch als Grundlage für einen aktiven Dialog dienen.
Ich bin fest davon überzeugt, dass fundierte Analyse und langfristiges Denken zu besseren Anlageergebnissen führen. Wenn wir ESG berücksichtigen, können wir – je nach Ansatz – nicht nur finanzielle Erträge, sondern auch positive reale Wirkungen erzielen. Das ist eine bemerkenswerte Möglichkeit. Ich plädiere für die Freiheit der Anleger: Jede und jeder sollte bewusst entscheiden können, ob sie oder er nachhaltig, wirkungsorientiert oder rein renditeorientiert investieren möchte. Entscheidend ist, dass diese Wahl besteht – und für alle transparent ist. Dafür müssen wir weiter forschen, uns stetig weiterentwickeln – und vermeiden, dass das «Perfekte» dem «Besseren» im Weg steht. Investitionen in eine bessere Zukunft könnten auch finanziell gute Investitionen sein. Hinterfragen wir unser Denken.