Verlustrisiken bestehen, die Wirtschaft zeigt sich aber robust

Der anhaltende Konflikt in der Ukraine ist eine humanitäre Krise und sehr emotionsgeladen. An den Märkten sorgen Emotionen immer für sprunghaftes, irrationales und unberechenbares Verhalten. Dies führt tendenziell zu überzogenen Befürchtungen und Risikoeinschätzungen.

Aus makroökonomischer Sicht sind die wichtigsten Variablen der aktuellen Krise die Energiepreise sowie alle anderen Weich- und Rohmaterialien. Dies wird sich auf Heiz-, Fahrt- sowie Lebensmittelkosten und mehr auswirken. Aktuell prognostizieren wir für 2022 ein globales Wachstum von rund 4,3 Prozent und einen Verbraucherpreisindex von rund 4,7 Prozent. Sollte der Ölpreis allerdings über zwei Quartale 150 US-Dollar pro Barrel erreichen, könnte das Wachstum um ein Prozent zurückgehen und der Verbraucherpreisindex 7,2 Prozent erreichen. Entscheidend ist hier nicht in erster Linie die exakte Höhe des Ölpreises, sondern die Dauer, über die er hoch bleibt.

Rezessionsrisiko geringer als aktuell befürchtet
Es gibt Verlustrisiken an den Märkten. Bislang konzentriert sich das Risiko nach Einschätzung des Marktes nur auf die EU und einige Schwellenländer. Die Auswirkungen werden aber wahrscheinlich weitere Kreise ziehen. Der Ölpreis wirkt sich global aus, folglich werden auch die Heiz- und Treibstoffkosten für US-Verbraucher stark ansteigen. Im Wesentlichen werden Verbraucher weniger Güter und Dienstleistungen erwerben, da ihre Lebenshaltungskosten höher ausfallen als erwartet. Die zweite Auswirkung betrifft die Zuversicht. Verbraucher werden ihr Erspartes nicht mehr im gleichen Umfang ausgeben wie vor dem Konflikt. Auch grosse Unternehmen könnten Investitionen oder Einstellungen aufschieben.

Entscheidend ist nicht in erster Linie die exakte Höhe des Ölpreises, sondern die Dauer, über die er hoch bleibt.

Ludovic Colin, Co-Head of Fixed Income, Vontobel Asset Management

Wir befinden uns heute in einer anderen Situation als im März 2020. Die globale Wirtschaftslage ist deutlich besser als im Januar und Februar 2020. Aktuell liegt das Wachstum in den grössten Volkswirtschaften (auch in Europa) weit über dem langfristigen Durchschnitt. Fast überall nähern wir uns wieder der Vollbeschäftigung. Im Grunde kann man sagen: Covid-19 ebbt ab. Ein weiterer Faktor spielt eine entscheidende Rolle: Die Liquiditätslage sieht weit besser aus als noch 2020 oder gar 2008. Die Liquidität, die dem System von den Zentralbanken weltweit zugeführt wurde, zirkuliert immer noch. Haushalte haben komfortable Guthaben angespart und Unternehmen in aller Welt sind finanziell gut ausgestattet und haben liquide Mittel in den Bilanzen.

Die EZB hat uns kürzlich daran erinnert, dass sie in puncto Liquidität weiter einen «flexiblen» Ansatz verfolgt und es zu Fiskalausgaben kommen wird. So arbeitet Frankreich bereits an einem Fiskalplan zur Unterstützung der von der Krise betroffenen Sektoren, US-Präsident Biden wird auf dem Capitol Hill einen neuen Anlauf für seine grossen Fiskalpläne nehmen und Deutschland hat seine Fiskalausgaben bereits erhöht, um nur wenige Beispiele zu nennen. Der Worst Case einer Rezession dürfte also sowohl durch die Finanzbehörden als auch die Geldpolitik abgewendet werden. Falls es zu einer Rezession kommt, dürfte es sich um eine sogenannte technische Rezession handeln (zwei oder drei Quartale), die zudem moderat ausfallen wird (sehr schwach negatives Wachstum).

Inflationsrisiken und mögliche Reaktionen der Zentralbanken
Die Zentralbanken haben primär das im Blick, was als «Kerninflation» bezeichnet wird, also die Teuerung ohne Lebensmittel und Energie, sowie die Inflationserwartungen. Diese Kerninflation dürfte gut verankert sein. Sollte es zu einem Konsum- oder Investitionsrückgang kommen, werden die Angebotsschocks bei Gütern und Dienstleistungen weniger gravierend ausfallen als zuvor. Aus diesem Grund liegt die auf fünf Jahre ausgerichtete Inflationserwartung des Marktes in den USA stabil bei 2,7 Prozent. Was die langfristigen Inflationserwartungen betrifft, geht man in den USA nicht von einer Beschleunigung aus. Für Europa gilt das Gleiche. Zudem werden sich Fed und EZB stark auf die Löhne konzentrieren. Letzten Monat wurden in den USA 648'000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Das Lohnwachstum lag im vergangenen Monat bei 0 Prozent. In Deutschland deuten die Tarifverhandlungen bislang auf ein weiterhin angemessenes Lohnwachstum hin. Die Ungewissheit könnte Arbeitgebern als starkes Argument dafür dienen, erwartete Lohnerhöhungen teilweise zu verschieben. Die Fed wird die Zinsen in der kommenden Woche erhöhen müssen. Allerdings dürfte der Zinsschritt in der veränderten Situation kleiner ausfallen. Angesichts der aktuellen Ereignisse wird für die kommende Woche einstweilen eine Erhöhung um 25 Basispunkte erwartet. Es ist nicht davon auszugehen, dass es in diesem Jahr zu mehr als vier Zinsschritten kommen wird. Der Markt preist mit 5,5 Erhöhungen aktuell etwas mehr ein, allerdings wurden drei Erhöhungen bereits ausgeschlossen. Das bedeutet, dass die Zinserhöhungen der Fed derzeit sogar noch etwas höher eingepreist werden. Was die EZB angeht, ist für dieses Jahr keine Zinserhöhung zu erwarten, auch wenn an der Einpreisung einer Erhöhung im Dezember festgehalten wird. Der erste Zinsschritt der EZB dürfte frühestens im März 2023 erfolgen.

Kontinuität zahlt sich aus
Wie in jeder Krise wird es auch dieses Mal Gewinner und Verlierer geben. Doch momentan verzeichnet der Markt einen Rückgang ohne klare Absicherung. Gewiss, der US-Dollar hat etwas zugelegt, Gold ebenfalls, und Staatsanleihen haben sich erholt. Doch wenn man die Entwicklung von Anlageklassen wie europäische Aktien und Spread-Produkte oder die Schwellenländer betrachtet, waren auch sie keine Alternative. Es lässt sich also sagen, dass nur Barmittel bislang Absicherung bieten. In der Vergangenheit hat sich allerdings gezeigt, dass es bei externen Schocks, die nicht aus dem Finanzsektor herrühren, ratsam ist, an vorhandenen Engagements festzuhalten.

Im Fall eines Gesamteinbruchs der Finanzmärkte – wovon nicht auszugehen ist – lohnt es sich, eher in Titeln engagiert sein, die bereits jetzt allzu stark ausgeweitet sind, als in Werten, die man aufgrund ihrer geografischen Entfernung für immun gegen globale Rohstoffschocks hält. Zudem kann man immer noch auf die Kavallerie zählen, sprich: die Zentralbanken, die für neue Liquiditätsspritzen sorgen würden.

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