Inflationsängste: Warten auf Godot in der Tatarenwüste?
Riskante Anlagen sind aufgrund der rückläufigen Renditen langfristiger Anleihen weiter gestiegen, während sich die wirtschaftlichen Aussichten dank des Abebbens der Pandemie immer weiter verbessern. Eine Frage belastet allerdings die Anleger und lässt ihre Nerven nicht zur Ruhe kommen: Wie wird sich die Inflation entwickeln?
Wir haben es fast geschafft – zumindest wirkt es so. Die jüngsten Daten zur Pandemie bestätigen den Abwärtstrend bei der Zahl der Infektionen und Todesfälle, auch in Asien, wo Anfang Mai beide Werte alarmierend stark gestiegen waren, sowohl in Indien als auch in anderen, bis dahin weniger stark betroffenen Ländern. Jetzt konzentrieren sich die Sorgen der Behörden auf die Infektiosität von Covid-Mutationen und die sich daraus ergebende, steigende Reproduktionsrate des Virus. Das veranlasste die britische Regierung zu erwägen, das ursprünglich für den 21. Juni geplante Ende des Lockdowns in England hinauszuzögern. Bisher haben Studien konstant festgestellt, dass eine vollständige Impfung gegen die Delta-Variante, die im Vereinigten Königreich weit verbreitet ist und sich in den USA und Kontinentaleuropa ausbreitet, wirksam schützt.
Daten zu den Impfungen
Der Anteil der vollständig geimpften Personen an der Gesamtbevölkerung wurde inzwischen zur wichtigsten zu überwachenden Zahl. In Israel sind es fast 60 %, in den USA und im Vereinigten Königreich über 40 % und in den wichtigsten Ländern der Eurozone rund 20 % (Stand: 7. Juni 2021). Durch die erfolgreichen Impfkampagnen entstehen neue Hürden: Es wird immer schwieriger, neue oder verbleibende Impfkandidaten zu finden, wodurch sich das Impftempo verlangsamt. Dies gilt besonders in den USA, wo rund 20 % der Bevölkerung angab, nicht bereit zu sein, sich impfen zu lassen. Für die Behörden, die eine Herdenimmunität anstreben, dürfte die Herausforderung der nächsten Wochen darin bestehen, Anreize und Zwang gegeneinander abzuwägen.
Wirtschaft – Willkommen in einer postpandemischen Welt?
Der jüngste US-Arbeitsmarktbericht hat für mehr Verwirrung gesorgt, als er Antworten gegeben hat. Die Zunahme der Zahl der Beschäftigten ausserhalb der Landwirtschaft enttäuschte im Mai, wobei diese weniger spektakulär ausfiel als im April: Während man mit 675’000 neuen Stellen gerechnet hatte, wurden nur 559’000 geschaffen.
Nathalie Benatia, BNP Paribas Asset ManagementFür uns bleibt das vorherrschende Umfeld auf mittlere Sicht günstig für riskante Anlagen.
Im Mai nahm die Beschäftigung vor allem in den schwer in Mitleidenschaft gezogenen, aber jetzt wiedereröffnenden Sektoren Freizeit und Gastgewerbe zu (Wachstum um rund 300’000 pro Monat seit März). Die Wiederaufnahme von Präsenzunterricht und anderen schulischen Aktivitäten liess die Stellenzahl im öffentlichen und privaten Bildungswesen um 144’000 steigen. Trotz dieser beeindruckenden Fortschritte gibt es immer noch 7,6 Millionen Stellen weniger als vor der Pandemie (wobei der Stellenverlust aufgrund der Pandemie derzeit allerdings deutlich geringer ist als im ersten Quartal 2020, als mehr als 20 Millionen Stellen verloren gingen).
Wie sieht die Lohnentwicklung aus?
Einige Beobachter wiesen darauf hin, dass manche Arbeitnehmer aus gesundheitlichen Gründen (Angst vor Ansteckung am Arbeitsplatz, Covid-Kranke) oder praktischen Gründen (Probleme bei der Kinderbetreuung, Pflege kranker Familienmitglieder) Stellen ablehnen. Andere haben höhere Leistungen bei Arbeitslosigkeit als Grund dafür aufgeführt, dass Menschen ihre Rückkehr ins Berufsleben hinauszögern. Infolgedessen meldeten 48 % (ein Rekordhoch) der Kleinunternehmer für den Monat Mai unbesetzte Stellenangebote. Auch die sich aus der Bureau of Labor Statistics‘ Job Openings and Labor Turnover Survey ergebende Zahl der Stellenangebote erreichte im April einen Rekordwert von 9,3 Millionen. Die Nachfrage nach Arbeitskräften ist hoch, während das Angebot offensichtlich nicht mithalten kann. Es ist noch unklar, ob diese angespannte Arbeitsmarktlage zu einem nachhaltigen Lohnanstieg führen wird. Die Daten waren in der jüngsten Zeit zu volatil, um Schlussfolgerungen zuzulassen. Der durchschnittliche Stundenlohn stieg im Mai unerwartet, aber bisher zeigte der Wage Growth Tracker der Atlanta Fed keine wesentliche Beschleunigung (Daten bis April).
Wie lange ist «vorübergehend»?
Die Haltung der wichtigsten Zentralbanken zur Inflation hat sich nicht geändert. Die seit Jahresbeginn höher als erwartet ausfallenden Verbraucherpreise könnten dazu führen, dass die EZB und die US Federal Reserve (Fed) ihre Inflationsprognosen für 2021 nach oben korrigieren. Man geht allerdings davon aus, dass sie an ihrer Überzeugung, dass wir es mit einem vorübergehenden Anstieg zu tun haben, festhalten werden. Daran dürfte auch der für den kommenden Donnerstag erwartete US-Verbraucherpreisindex nichts ändern. Der Konsens geht von einem weiteren Anstieg aus (tatsächliche Inflation im Jahresvergleich von 4,2 % im April auf 4,7 % im Mai). Wie bisher sollten sich deutliche Anstiege allerdings auf Preise beschränken, die im Frühjahr 2020, nach dem Lockdown eingebrochen waren.
Die Weltwirtschaft befindet sich also im Wandel
Die Aktivität in der Eurozone, die in Q1 weniger stark zurückging als zunächst geschätzt (BIP-Rückgang um 0,3 % gegenüber der ursprünglichen Schätzung von -0,6 %), dürfte sich in der zweiten Jahreshälfte deutlich verbessern, während sich das sehr starke US-Wachstum der ersten Jahreshälfte voraussichtlich normalisieren wird. Die Anleger haben Recht, wenn sie sich fragen, welche Folgen diese Neugewichtung für die Volkswirtschaft und die Märkte haben wird. Es steht zu erwarten, dass die EZB und die Fed ihr vorsichtiges Vorgehen bei der Geldpolitik trotz des besseren Konjunkturausblicks bekräftigen. An den Märkten dürften die Inflationssorgen zu- und abnehmen, bis die Daten eindeutig zeigen, dass die Preise nur vorübergehend steigen. Dann dürfte man von einem zyklischen, stärker synchronisierten Aufschwung in den wichtigsten geografischen Regionen ausgehen. Für uns bleibt das vorherrschende Umfeld auf mittlere Sicht günstig für riskante Anlagen.