Kann Europa einer US-Rezession entgehen?

Der wirtschaftliche Konsens sieht mittlerweile ein wachsendes Rezessionsrisiko in den USA, während die Gefahr eines Abschwungs im Vereinigten Königreich und in der Eurozone abnimmt. Dies ist eine grosse Veränderung gegenüber dem Jahresbeginn. Damals wurde die Wahrscheinlichkeit einer Rezession für die nächsten zwölf Monate auf beachtliche 90 Prozent im Vereinigten Königreich, 80 Prozent in Europa und 60 Prozent in den USA geschätzt.

Doch so übel scheint es nicht zu sein – zumindest auf den ersten Blick. In der vergangenen Woche stiegen die Erstanträge auf Arbeitslosenunterstützung in den USA drastisch an. Darauf folgte in der Vergangenheit meist eine Rezession. Jedoch sei dieser Anstieg offenbar auf einen Betrug in Massachusetts zurückzuführen. Und wenn man die Berechnungen um die manipulierten Anträge bereinigt, dürfte der sich dieser Aufwärtstrend laut Untersuchungen der Deutschen Bank wieder umkehren.

In der vergangenen Woche stiegen die Erstanträge auf Arbeitslosenunterstützung in den USA drastisch an. Darauf folgte in der Vergangenheit meist eine Rezession.

Steven Bell, Chief Economist, Columbia Threadneedle

Darüber hinaus wurden die Befürchtungen, die Probleme der US-Regionalbanken würden zu einer Kreditklemme führen, in der vergangenen Woche durch neue Daten widerlegt. Weder die von der Fed durchgeführte Umfrage unter leitenden Kreditsachbearbeitern noch die Umfrage unter Kleinunternehmen zeigten einen Rückgang der Verfügbarkeit von Krediten. Im Gegenteil: Sie verzeichneten sogar einen Anstieg.

US-Rezessionsrisiko trotz positiver Daten
Täuschen sich die Ökonomen also über das Risiko einer Rezession in den USA? Nicht nach meiner Ansicht von Bell. Ich bleibe bei der Prognose einer Rezession in den USA bis zum Jahresende. Eine Kreditklemme mag abgewendet worden sein, aber eine Verknappung ist immer noch im Gange. Kredite sind zwar immer noch verfügbar, aber die Bedingungen sind viel schwieriger geworden – und auch die Zinserhöhungen haben Auswirkungen. Die Kreditnehmer schränken ihre Nachfrage nach Krediten ein, und den Konsumenten geht die Luft aus. Letztere haben ihre sogenannten Covid-Sparschweine im vergangenen Jahr stark in Anspruch genommen. Doch es nun gibt Anzeichen dafür, dass diese Unterstützung nicht mehr gegeben ist. Mehr Klarheit über die Aussichten für die Verbraucherausgaben in den USA erwartet ich von den Zahlen zu den Einzelhandelsumsätzen und den Gewinnberichten von Unternehmen wie Walmart und Home Depot, die demnächst veröffentlicht werden.

Europa und Grossbritannien auf dem Aufwärtspfad
Wenn die USA bis zum Jahresende in eine Rezession abrutschen, werden das Vereinigte Königreich und Europa dann nachziehen? Davon gehen ich nicht aus: Die Wirtschaftsdaten in Europa und im Vereinigten Königreich dürften sich im weiteren Verlauf dieses Jahres weiter verbessern. Da die Energiepreise sinken, nimmt das Konsumentenvertrauen in beiden Ländern zu. Das dürfte wiederum zu höheren Ausgaben führen. Zusätzlich werden sich diese Trends wahrscheinlich auch in den Unternehmen fortsetzen. Doch was bedeutet das nun für die Finanzmärkte? Eine Rezession in den USA bedeutet wahrscheinlich fallende US-Aktien. Angesichts der vorherrschenden pessimistischen Stimmung bei Analysten und Anlegern dürfte ein etwaiger Rückgang bescheiden ausfallen. Allerdings werden sich Aktien in den USA im Vergleich zu Europa und dem Vereinigten Königreich wahrscheinlich schlechter entwickeln. Zudem dürften auch die US-Zinsen bis zum Jahresende sinken – selbst wenn sie vorher weiter steigen. Das würde bedeuten, dass sich der Anstieg des Dollars in der vergangenen Woche als vorübergehend erweisen dürfte. Und schliesslich dürften sich auch US-Anleihen nach einigen Schwankungen erholen.

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