Ist die Kryptowährung Ethereum gescheitert?
Mit einem Plus von 65% innerhalb eines Monats hat sich Ether eindrucksvoll zurückgemeldet. Doch der Aufschwung überdeckt eine grundlegende, strategische Frage: Verliert Ethereum an ökonomischer Relevanz?
Der Preis von Ether (ETH) hat jüngst ein deutliches Lebenszeichen von sich gegeben: allein innerhalb einer Woche kletterte das zweitgrösste Krypto-Asset um 40% in die Höhe. Im Monatsvergleich resultiert gar ein Plus von 65%. Diese sogenannte «Relief-Rally» folgte auf eine monatelange Phase der Schwäche. Bereits im letzten Jahr verlor ETH im direkten Vergleich mit Bitcoin (BTC) an Boden – ein Trend, der sich bisher auch im 2025 fortgesetzt hat. Seit Jahresbeginn liegt ETH mit einer negativen Jahresperformance von -22 % weiterhin deutlich hinter BTC, der ein Plus von 10% verzeichnet.
Wachsende Kritik am Ether-Coin
Im Zuge dieser Entwicklungen mehren sich die kritischen Stimmen. Der Vorwurf, Ether habe seinen Zenit überschritten, wird immer lauter. Einige prominente Investoren aus der Krypto-Szene gehen sogar so weit, das Projekt für gescheitert zu erklären. Ist diese harsche Kritik berechtigt?
Pascal Hügli, Crypto Investment Manager, Maerki BaumannDer Vorwurf, Ether habe seinen Zenit überschritten, wird immer lauter. Einige prominente Investoren aus der Krypto-Szene gehen sogar so weit, das Projekt für gescheitert zu erklären.
Selbstverständlich gab es schon immer Bitcoin-Hardliner, die Ethereum als Projekt voller leeren Versprechen abtaten. Neu ist jedoch, dass sich zunehmend auch differenzierte und fundierte Stimmen melden, die die aktuelle Bewertung des Vermögenswerts Ether kritisch hinterfragen. So veröffentlichte etwa die namhafte Venture-Capital-Firma Triton ein vielbeachtetes Thesenpapier, in dem sie zu dem Schluss kommt, dass Ether überbewertet sei. Ganz gleich, ob man den Coin als aktienähnliches Instrument mit Cashflow-Ansprüchen, als digitalen Rohstoff oder als Form von Geld betrachtet – in keinem der angewandten Bewertungsmodelle lasse sich die aktuelle Bewertung mit den zugrunde liegenden Fundamentaldaten rechtfertigen. Daher vertreten immer mehr Investoren die Auffassung, dass das Ethereum-Netzwerk zwar technologisch und konzeptionell seine Daseinsberechtigung habe, Ether selbst jedoch nicht in der Lage sei, den im Netzwerk generierten Wert «einzufangen». Anders als Bitcoin hat es Ether auch nicht geschafft, sich als neuartiger, digitaler Wertspeicher zu etablieren. Entsprechend fehlen strategische Käufer wie etwa MicroStrategy oder Tether, die regelmässig BTC akkumulieren.
Ethereum als Opfer des eigenen Erfolgs?
Das Argument des fehlenden «Value Accrual» – also der mangelhaften «Werteinfangung» durch den Ether-Coin – lässt sich inzwischen auch empirisch untermauern. Die erfolgreiche Skalierung des Ethereum-Ökosystems durch eine Vielzahl von Layer-2-Lösungen hat dazu geführt, dass ein Grossteil der Anwendungen von der Mainchain auf diese sogenannten Layer-2-Netzwerke migriert ist. Mittlerweile existieren über 150 solcher Protokolle, die eine Entlastung der Haupt-Blockchain ermöglichen. Doch mit dieser Verlagerung sinken auch die Einnahmen, die direkt über die Ethereum-Blockchain generiert werden, insbesondere in Form von Transaktionsgebühren. Die Folge: Die Mainchain verliert zunehmend an wirtschaftlicher Relevanz im eigenen Ökosystem. Siehe dazu die Abbildung unten. Ironischerweise wird Ethereum damit ein Stück weit zum Opfer seines eigenen Skalierungserfolgs. Die Layer-2-Netzwerke treten nicht nur als Erweiterung, sondern auch als Konkurrenten zur Mainchain auf, da sie einen wachsenden Anteil der Wertschöpfung abfangen, der früher direkt Ethereum und damit Ether zugutekam.
Ethereum setzt auf Marktanteile statt kurzfristiger Profite
Einige Marktbeobachter argumentieren, dass diese Kannibalisierung letztlich Teil des Plans von Ethereum ist und das Unternehmen eine ähnliche Strategie verfolgt, wie das bereits Amazon in den späten 1990er-Jahre tat. Damals verzichtete das heutige Tech-Schwergewicht bewusst auf Profitabilität, obwohl hohe Umsätze erzielt wurden. Der Grund: Amazon verkaufte viele Produkte zum Selbstkostenpreis, um etablierten Händlern Marktanteile abzunehmen, die Konkurrenz auszuschalten und so eine Quasi-Monopolstellung zu erreichen.
Pascal HügliLangfristig wird es für Ethereum entscheidend sein, ein ökonomisches Gleichgewicht zu finden.
Indem Ethereum seine Layer-2-Lösungen derzeit nur geringfügig zur Kasse bittet, verfolgt das Netzwerk nun eine ähnliche Strategie: Maximierung des Netzwerkeffekts statt kurzfristiger Gewinne. Das Ziel besteht darin, möglichst viele Layer-2-Protokolle anzuziehen und so das eigene Ökosystem zu stärken. Im Zentrum dieses Modells steht Ethereum als Basisschicht (Layer 1), die Sicherheit und Datenverfügbarkeit bereitstellt. Layer-2-Netzwerke nutzen diese Infrastruktur, indem sie ihre Transaktionsdaten auf der Ethereum-Blockchain veröffentlichen. Dafür zahlen sie Gebühren, wodurch Ethereum Einnahmen erzielt. Die rückläufigen klassischen Transaktionsgebühren auf der Mainchain werden häufig als Schwäche interpretiert, sollen aber in Wirklichkeit integraler Bestandteil der Strategie sein. Denn wenn Projekte wie Base, das Layer-2-Netzwerk der Krypto-Börse Coinbase, beachtliche Gewinne erwirtschaften, steigt auch der Anreiz für neue Layer-2s, Ethereum als Basisinfrastruktur zu nutzen. Die Logik für ETH kann daher lauten: mehr Anwendungen, mehr Nutzer, mehr wirtschaftliche Aktivität – und mittelfristig mehr Einnahmen für Ethereum als Anbieter von Sicherheits- und Datenverfügbarkeitsdiensten.
Zwischen Skalierung und Kosten: Der Balanceakt im Layer-2-Zeitalter
Sollte sich die Welt tatsächlich in Richtung einer «On-Chain-Zukunft» bewegen, könnten Layer-2-Netzwerke in naher Zukunft ebenso allgegenwärtig sein wie heute Websites. Allein im traditionellen Finanzwesen finden derzeit schätzungsweise 100 bis 200 Milliarden Transaktionen pro Tag statt, beispielsweise im Aktienhandel, im Zahlungsverkehr oder auf den Derivatemärkten. Wenn die Tokenisierung ihr Versprechen einlöst, könnte ein substanzieller Teil dieser Aktivitäten künftig über Blockchain-Netzwerke wie Ethereum abgewickelt werden. Damit die Strategie von Ethereum aber langfristig aufgeht, muss es gelingen, die Layer-2-Netzwerke auch ausreichend zu monetarisieren, ohne deren Wettbewerbsfähigkeit zu gefährden. Höhere Einnahmen für Ethereum bedeuten jedoch auch höhere Kosten für die Layer-2-Netzwerke und in der Folge steigende Nutzungsgebühren für Endanwender. Dies könnte wiederum die Adoption ausbremsen, insbesondere bei massenmarkttauglichen Anwendungen.
Langfristig wird es für Ethereum entscheidend sein, ein ökonomisches Gleichgewicht zu finden. Die Einnahmen der Mainchain müssen ausreichen, um die Plattform nachhaltig zu finanzieren. Gleichzeitig müssen die Gebühren für Endnutzer auf Layer-2s niedrig genug sein, um eine breite Anwendung und hohe Transaktionsvolumina zu ermöglichen. Gelingt dieser Balanceakt, könnte Ethereum tatsächlich zur zentralen Infrastruktur für eine tokenisierte Wirtschaft werden – vergleichbar mit der Rolle, die Amazon als Rückgrat des digitalen Handels einnimmt.