Strategische Wende: Europas Verteidigung wird zum Industriezweig

Die europäischen Regierungen sind in ein neues Zeitalter der Sicherheits- und Verteidigungsplanung getreten. Von 2025 bis 2030 wird eine bewusste Verlagerung von kurzfristiger Wiederaufrüstung hin zu struktureller, langfristiger Bereitschaft stattfinden. Dazu gehören die Stärkung der industriellen Kapazitäten, Investitionen in gemeinsame Beschaffungsmassnahmen, der Aufbau strategischer Vorräte und die Operationalisierung von schnellen Reaktionskräften. Für Anleger bedeutet dies eine Phase mit nachhaltiger Ausgabensicherheit, stärkeren öffentlich-privaten Partnerschaften und einer Konsolidierung innerhalb der Lieferkette im Verteidigungssektor.

Auf Ebene der Europäischen Union (EU) wurde mit der im März 2024 veröffentlichten Europäischen Verteidigungsindustriestrategie (EDIS) der Rahmen für die Stärkung der Eigenständigkeit Europas in der Verteidigung geschaffen. Ein zentraler Aspekt dieser Strategie ist der Vorschlag eines Europäischen Verteidigungsindustrieprogramms (EDIP), mit dem die EU von vorübergehenden, krisenbedingten Initiativen zu einem strukturellen Mechanismus übergehen soll, der die industrielle Bereitschaft im Verteidigungsbereich unterstützt. Wenn das EDIP 2025 bis 2026 verabschiedet wird, entstehen mehrjährige Anreize für gemeinsame Beschaffung, grenzüberschreitende Produktion und die Risikominderung in kritischen Lieferketten.

Für Anleger schafft die Umgestaltung der europäischen Verteidigung ein einzigartiges Investmentumfeld.

Aneeka Gupta, Macroeconomic Research, WisdomTree

Der Europäische Verteidigungsfonds (EDF) ist weiterhin das wichtigste Finanzierungsinstrument der EU für gemeinsame Forschung und Entwicklung. Über das Arbeitsprogramm 2025 wurden Ausschreibungen mit Schwerpunkt auf Prioritätsbereichen wie Munition, Nachrichten-, Überwachungs- und Aufklärungskapazitäten (ISR), Luft- und Raketenabwehr sowie digitale Resilienz gestartet. Neben dem EDF begünstigt auch das 2023 verabschiedete Gesetz zur Förderung der Munitionsproduktion (ASAP) einen raschen Ausbau der Munitionsproduktion. Dabei besteht das Ziel, bis Ende 2025 jährlich etwa 2 Millionen 155-mm-Artilleriegeschosse herzustellen. Operativ stellt die EU auch die Schnelle Eingreiftruppe (Rapid Deployment Capacity, RDC) auf – eine modulare Truppe von 5‘000 Soldatinnen und Soldaten, die bis Ende 2025 voll einsatzfähig sein soll. Dies ist ein entscheidender Schritt, um sicherzustellen, dass die industrielle Bereitschaft in einsatzfähige Kapazitäten umgesetzt wird. Auf transatlantischer Ebene bildet die Organisation des Nordatlantikvertrags (NATO) den ergänzenden Rahmen. Die auf dem Washingtoner Gipfeltreffen im Juli 2024 vereinbarte Erklärung zum Ausbau der Industriekapazitäten verpflichtet die Verbündeten zu langfristigen Wiederaufrüstungs- und Berichterstattungszyklen. Dabei wurden 2% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) als Mindestwert und nicht als angestrebter Richtwert für die Verteidigungsausgaben festgelegt. Die NATO hat Anfang 2025 auch ihren Aktionsplan für die Verteidigungsproduktion (DPAP) aktualisiert, wobei die NATO-Agentur für Unterstützung und Beschaffung (NSPA) mehrjährige Verträge abgeschlossen hat, um den vorhersehbaren Bedarf an Munition, Luftabwehrsystemen und anderen wichtigen Ressourcen zu decken. Die nationalen Regierungen verstärken diese Bemühungen durch eigene Änderungen ihrer Politik. Deutschlands Zeitenwende verpflichtet sich zu nachhaltigen Ausgaben von mindestens 2% des BIP, die durch das Sondervermögen unterstützt werden. Das Vereinigte Königreich hat einen Plan aufgestellt, um bis 2027 2,5% des BIP für Verteidigung auszugeben, und verbindet dies mit industriellen «Wachstumsabkommen», die lokale Lieferketten ankurbeln sollen.

Schrittweiser Zeitplan (2024 bis 2030)
Bis Ende 2025 muss Europa vorweisen können, dass die Notfallmassnahmen ausgereift und einsatzbereit sind. Das bedeutet, dass die Munitionsproduktion auf 2 Millionen Granaten pro Jahr gesteigert wurde, Engpässe in der Lieferkette für Sprengstoffe und Munitionspulver beseitigt wurden und die EU RDC vollständig einsatzbereit ist. Gleichzeitig sollten die NATO-Rahmenverträge für Munition und bodengestützte Luftabwehr zunehmend Ergebnisse liefern. Die Einführung und Umsetzung des EDIP wird in den Jahren 2026 und 2027 von entscheidender Bedeutung sein. Die Mitgliedstaaten müssen ihre Beschaffungsvorschriften harmonisieren, um echte grenzüberschreitende Aufträge und die Zusammenarbeit bei der Produktion zu ermöglichen. Die 2025 gestarteten EDF-Projekte sollten in die Prototypenphase übergehen, wobei der industrielle Durchsatz und grenzüberschreitende Joint Ventures forciert werden sollten. Der Meilenstein des Vereinigten Königreichs von 2,5% und die anhaltende Verpflichtung Deutschlands zu 2% verleihen den Erwartungen der Anleger hinsichtlich einer dauerhaften Nachfrage Glaubwürdigkeit. Von 2028 bis 2030 wird der Schwerpunkt auf die Steigerung der Produktion in prioritären Bereichen wie bodengestützte Luftabwehr, Präzisionsmunition und Drohnenabwehrsysteme verlagert. Bis 2030 will die EU mindestens 50% der Beschaffung innerhalb Europas tätigen. Damit soll sichergestellt werden, dass die industrielle Kapazität und die Widerstandsfähigkeit der Versorgung als fester Bestandteil der europäischen Sicherheit verankert werden.

Positionierung für Europas Weg zur Bereitschaft
Für Anleger schafft die Umgestaltung der europäischen Verteidigung ein einzigartiges Investmentumfeld. Mehrjährige Zusagen auf nationaler und EU-Ebene sorgen für Prognosesicherheit bei den Ausgaben entlang der gesamten Wertschöpfungskette: von Munition über Sensoren bis hin zu Command-and-Control-Systemen. Rheinmetall (Deutschland) und BAE Systems (Vereinigtes Königreich) sind gut aufgestellt, um von der anhaltenden Nachfrage nach Munition und gepanzerten Systemen zu profitieren. Aufgrund von Engpässen bei Energetik, Raketentriebwerken, Suchköpfen und Testinfrastruktur geniessen Unternehmen mit seltenen Kompetenzen eine anhaltende Preisgestaltungsmacht und Wettbewerbsvorteile. Beispiele hierfür sind Nammo (Norwegen) in den Bereichen Energetik und Raketentriebwerke sowie MBDA (ein europäisches Joint Venture) bei Raketensuchgeräten und Lenksystemen. Die Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, die vom Europäischen Verteidigungsindustrieprogramm und dem Europäischen Verteidigungsfonds angeregt wird, begünstigt Unternehmen, die die Nachfrage bündeln und kleine und mittlere Unternehmen in grössere Lieferketten einbinden können. Unternehmen wie Airbus Defence and Space (Frankreich) und Leonardo (Italien) übernehmen diese Rolle, indem sie Joint Ventures und paneuropäische Programme verankern. Gleichzeitig unterstreichen die hohen Anforderungen an Betriebskapital und Lagerbestände die Notwendigkeit für Anleger, die Qualität des Auftragsbestands, Vertragsbedingungen und Vorauszahlungen zu bewerten. Unternehmen wie Thales (Frankreich) mit seinem diversifizierten Auftragsbestand in den Bereichen Command-and-Control-Systeme und Cyber zeigen, wie ein transparenter Auftragsbestand die langfristige Widerstandsfähigkeit untermauern kann. Die Finanzierung von Infrastruktur mit doppeltem Verwendungszweck (Dual Use) – etwa Logistikzentren, Schienenverkehr und Energiespeicherung – durch die Europäische Investitionsbank bietet zusätzliche Investitionsmöglichkeiten, die auf Umwelt-, Sozial- und Governance-Kriterien (ESG) abgestimmt sind. Infrastrukturgebundene Rüstungsunternehmen wie Kongsberg Gruppen (Norwegen) oder grosse Integratoren wie Saab (Schweden) veranschaulichen die Bedeutung dieser Dimension des doppelten Verwendungszwecks.

Fazit
Europas Weg zur militärischen Bereitschaft stellt sowohl einen strukturellen Politikwandel als auch eine nachhaltige Anlagechance dar. Mehrjährige Verpflichtungen der Europäischen Union, der NATO und nationaler Regierungen erzeugen eine beispiellose Transparenz bei den Verteidigungsausgaben und der Industrieproduktion und schaffen damit starke Impulse für Unternehmen entlang der Lieferkette. Anlegern bietet dies Zugang zu Themen, die Sicherheitsanforderungen mit langfristigen Umsatzperspektiven, grenzüberschreitender industrieller Zusammenarbeit und der Aussicht auf Konsolidierungsgewinne verbinden. Gleichzeitig sollten Risiken nicht unterschätzt werden. Politische Veränderungen könnten Haushaltsprioritäten beeinflussen, während industrielle Engpässe bei Energetik, Fachkräften oder Testkapazitäten Lieferzeiten verzögern könnten. Geopolitische Schwankungen könnten die Ausgabenzyklen verstärken oder verkürzen und zu einer unterschiedlichen Entwicklung der Unternehmensergebnisse führen.

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