Satire: Inside Bank Rupp & Cie – Kraftzeichen

Inside Bank Rupp & Cie (bæŋkrʌptsi) ist eine satirische Kolumne und handelt vom Innenleben einer Bank und anderen Unzulänglichkeiten des Lebens. Heute zum Thema Kraftzeichen oder die Tücken und Auswirkungen des gewöhnlichen nachmittäglichen Büroschlafs.

Sylvie Plattner war verunsichert, als ihr Chef trotz mehrmaligem Anklopfen nicht reagierte. Nach längerem Zuwarten öffnete sie behutsam die Bürotür und stellte mit Erleichterung fest, dass Fritz Holliger, den Kopf auf die Tischplatte gesenkt, bloss eingenickt war. Sie zögerte abermals, bevor sie schliesslich auf Zehenspitzen den Raum betrat, um die für Holliger ausgedruckten Mails im Eingangsfach abzulegen. Und dabei sah sie ihn, den dunklen Fleck, der gut sichtbar unter seinem verrutschten Hemdkragen hervorlugte.

Ein Tattoo! Ein Fünffrankenstück grosses Tattoo!

Sylvie Plattner war vom Zufallsfund völlig überwältigt. Kaum zu fassen, was da auf Weisse-Socken-Kurzarmhemd-Holligers schwulstigem Nacken zu sehen war. Sachte und mit Abstand beugte sie sich über Holligers massigen Schädel und betrachtete aufmerksam die kunstvollen asiatischen Zeichen, die ihr, schön zentriert, auf Höhe des Trapezmuskels entgegenblickten. Sie neigte ihren Kopf nach vorne, tiefer und tiefer hielt sie ihn, und gleichwohl gelang es ihr nicht, aus den zahlreichen Strichen etwas Verständliches herauszulesen. Zu abstrakt, zu fremd waren ihr die Zeichen. Und so tat sie, was sie in Anbetracht der gegebenen Umstände tun musste: Sie nahm das Smartphone aus der Pattentasche ihres Blazers und fotografierte das kleine Kunstwerk.

Sylvie Plattner war vom Zufallsfund völlig überwältigt. Kaum zu fassen, was da auf Weisse-Socken-Kurzarmhemd-Holligers schwulstigem Nacken zu sehen war.

Der Private Banker hatte sich das Tattoo nach einem feuchtfröhlichen Pokerabend in einem dieser 24/7 geöffneten Tattoo-Studios in der Altstadt stechen lassen. Wo sollten Tschudi, Wirz, Petermann und er, Fritz Ernst Holliger, Samstagnacht um zwei Uhr sonst hin? Alles andere war ja wegen dieser Pandemie geschlossen.

«Haben Sie etwas Bestimmtes im Kopf …», hatte die Tätowiererin ihn, der als Letzter an der Reihe war, gefragt. Holliger hatte daraufhin, nachdem er die attraktive Frau mit dem breiten Zürcher Dialekt und den asiatischen Gesichtszügen wegen der vermuteten Ganzkörpertätowierung schon dreimal blöd angemacht hatte, augenzwinkernd und mit beiseite geschobener Maske von etwas Exotischem – «wilder, starker Tiger oder so …» – gequasselt und dabei seine neuerdings am Oberarm bemalten Kollegen lange und blöd angegrinst. Die junge Frau hatte bloss genickt und dann beflissen losgelegt. Und schon nach weniger als zwanzig Minuten war alles vorbei gewesen.

Sylvie Plattners sur place gestartete Recherche blieb trotz grossem Aufwand bis Arbeitsschluss ohne Erfolg, weshalb sie das Foto um exakt halb fünf, unter der Vorgabe strengster Vertraulichkeit wohlverstanden, an ihren Kollegen Lars Widmer vom Zahlungsverkehr weitersandte. Von dort ging das Foto postwendend an Sandro Pfäffli vom Private Banking, und von diesem an Petra Lemm von Compliance und mindestens fünf weitere Adressaten. Doch auch die hochspezialisierten Compliance-Investigationen blieben ohne Ergebnis, weshalb Lemm sich nach reiflicher Überlegung entschloss, Seraina Steiner von der Internen Revision einzuschalten.

Es waren nicht einmal 24 Stunden nach Erhalt der bebilderten und mit Fritz Holliger!!! betitelten Nachricht, als Steiner wegen angeblich akuten Nackenschmerzen notfallmässig die Praxis für Chinesische Medizin aufsuchte.

«Herr Alex, wissen Sie, was die Zeichen hier bedeuten?», fragte sie ihren Therapeuten bei der Begrüssung und streckte ihm das Foto mit Holligers Tattoo entgegen.

Alex Feng nahm das Smartphone in die Hand und schaute sich das Bild lange an. Er schien ein wenig irritiert und schüttelte mehrmals verständnislos den Kopf. Steiner befürchtete bereits, ihn und seine Gefühle mit ihrer Frage verletzt zu haben. Und sie hatte auch schon eine passable Entschuldigung parat, als sie hinter seiner Maske plötzlich und unerwartet ein angedeutetes Schmunzeln wahrnahm.

Er machte eine unverständliche Bemerkung, worauf Seraina Steiner ihn fragend anblickte.

«Wüste Schwein» sagte er darauf nochmals, diesmal etwas lauter.

«Wüstenschwein?», wiederholte sie verwundert.

«Nein, nein», insistierte er, «wüstes Schwein!»