White Collar – Regeln

«White Collar» ist unsere Satire-Kolumne über (Un-)Sinnigkeiten aus der Geschäftswelt. In der neuen Folge widmet sich Andreas Hönger dem Thema Regeln.

Die Orientierung fällt zunehmend schwerer. Die Religion ist verschwunden, Autoritäten fehlen und jede/r/mann/frau/divers verwirklicht sich selbst. Aber es gibt sie noch: Die Regeln. Einige sollen hier in Erinnerung gerufen werden:

  • Sprich auf dem Arbeitsweg keine Leute auf ihr Benehmen an. Heute ist der öffentliche Raum auch das private Wohnzimmer. Laute Musik abspielen oder laut telefonieren, ist cool, und Kopfhörer drücken in den empfindlichen Ohren. Auch Nägel schneiden oder einfach in versifften Trainerhosen rumlümmeln ist sehr ok. Ebenso freudig pupsen und gorpsen. Authentisch zu sein, ist heute sehr wichtig.
  • Gendere was das Zeug hält. Wirf um dich mit Schrägstrichen, Sternchen, Unterstrichen, Doppelpunkten, Paarformen, Binnen-I und Geschlechtsneutralität. Auch wenn es sprachlich gar nicht geht. Es gibt immer eine Lösung: Menschenmilch, gebärendes Elternteil, Hauptmännin, Mitgliederin, Vorreiterinrolle. Reg dich nicht darüber auf, sondern freue dich über die neuen kreativen Möglichkeiten, welche Diversität und Gleichstellung über Rechtschreibung stellen. Und falls du selbst mal falsch gegendert und nicht als they angesprochen wirst, obwohl du wie George Clooney aussiehst, sei verzeihlich. Es geht nicht immer nur um dich.
  • Poste alles, was du wichtig und interessant findest. Likes sind wichtiger als Leistung, wie auch Status wichtiger ist als Intelligenz. Poste auch alltägliches, beispielsweise die tiefgreifende Begegnung mit dem freundlichen Tramchauffeur, der deine Einkaufstasche bis vor die Wohnungstüre getragen hat. Aber: Poste nicht Dutzende von Bildern, LinkedIn ist kein Diaabend und lass Bilder von Haustieren sein, ausser du arbeitest in einer Tierklinik. Verzichte auch auf Nacktfotos von dir oder Dritten.
  • Verwende nicht ständig Emojis, auch wenn dir die Bildchen sehr zusagen. Es macht keine gute Falle und den Meisten ist sowieso unklar, wofür die einzelnen lachenden, weinenden und knuddeligen Gesichter wirklich stehen. Und bei Bewerbungsschreiben, Entlassungen und Todesfällen passen Sie einfach nicht.
  • Pimpe deine Bewerbungen. Keine Übertreibung deiner Fähigkeiten ist zu viel. Nutze ChatGPT. Deine Schreibschwäche werden sie noch früh genug erkennen.
  • Burnout, Depression und Hyperaktivität waren einmal geächtete Krankheiten. Das ist nicht mehr so; sie sind jetzt Zeichen für Verantwortungsbewusstsein, Empathie, Offenheit und Tatendrang. Und rede darüber mit jedem, den es nicht interessiert. Overinformation gibt es in diesen wichtigen Belangen nicht. Berichte auch über die Diagnose deines Psychiaters, und zeige deine Veränderungsbereitschaft und deine einzelnen Wachstumsschritte.
  • Entfalte dich bei der Arbeit persönlich und lass dich nicht durch Vorgaben oder Produktivitätsziele ablenken. Wenn jemand reklamiert, sag selbstbewusst: New Work.
  • Kämpfe für deine Rechte, alle Anderen machen es auch. Es ist nicht einzusehen, warum du deine geliebte Anakonda nicht zur Arbeit bringen kannst. Und cancle Geschäftsanlässe, die dir nicht passen. Dein Wohlbefinden ist wichtig.
  • Duze alles, was dir über den Weg läuft. Siezen ist verklemmt und altmodisch.
  • Frage keinen Mitarbeitenden, woher er kommt. Manchmal ist er einfach hier geboren.
  • Bei unerwünschten Gesprächen hilft immer der Gang auf die Toilette. Ich muss jetzt unbedingt sagen, aufstehen und verschwinden.

Regeln lenken den weisen Mann. Der Dummkopf befolgt sie.

Oscar Wilde
  • Empathie und Achtsamkeit bedeutet nicht, dass du dich für die Kleidergrösse des Gegenübers interessieren müsstest.
  • Trag keine Krawatte, das ist out. Dafür kleide dich mit Turnschuhen und farbigen Armketten. Bleibe generell bei deinen Marotten. Eine gewisse Zeit werden Hawaiihemden out sein, aber wenn es wieder losgeht, bist du ein Trendsetter. Das gilt auch für weisse Socken, Stirnbänder, Netzhandschuhe oder Bauchtaschen.
  • Tatoos sind sehr ok; heute bist du damit nicht automatisch ein Mitglied der japanischen Yakuza, sondern im Trend.
  • Störe deinen Chef nicht, wenn er ständig auf sein Handy blickt. Das ist nicht unanständig; er hat sicher Wichtiges zu tun. Untergebenen hingegen darfst du das Handy ohne Kommentar aus der Hand schlagen.
  • Nenn deinen Chef nicht Digga oder Babo. Vor allem über 50 outest du dich als Lauch. Und wer heute noch obergeil sagt ist wack.
  • Entschuldige dich nicht für das Verhalten deines Chefs. Du hast ihn nicht rekrutiert.
  • Verletze keine Gefühle der Anderen. Sie haben unterschiedliche oder gar keine Belastungsgrenzen, die du nicht kennst; darum schweige am besten.
  • Frage bei Einladungen zum Geschäftsessen nicht nach Vorlieben und Unverträglichkeiten. Spätestens beim Hauptgang Kutteln wirst du sofort wissen, wer loyal ist und wer nicht.
  • Sharing means caring gilt nicht beim Geschäftsessen. Dein Besteck gehört ausschliesslich in deinen Teller. Und lass dir nicht die Reste der Gäste einpacken.
  • Wenn du die Speisekarte nicht verstehst (Cuy chactado, Pét Nat, Sonofabitch Stew, Yuzu), folge den Anderen und hau rein. Und kein Food-Shaming. Auch Tofu ohne Sauce kann lecker sein, wenn man es mag. Und auch kein Body-Shaming, selbst wenn der Chef wirklich dick ist.
  • Immer wieder mit dem neuesten Gault Millau Restaurant anzugeben ist öde. Du bist ja nicht Koch. Das gilt auch für die teuersten Weine. Ein Denner-Wein ist immer besser als keiner.
  • Wenn jemand wegen Kolophonium eine Papierallergie hat, weise ihn zurecht und sage: Allergien macht dich nicht weniger langweilig.
  • Iss mehrmals im Monat in der gruseligen Kantine. Das lässt dich als bescheidenen und nahbaren Chef erscheinen.
  • Iss das letzte Stück beim Apéro. Dann kommt endlich Nachschub. Falls nicht, ist das nicht dein Problem.
  • Gib den Mitarbeitenden kein Trinkgeld, der Lohn genügt.
  • Ärgere dich nicht über die kurzen Arbeitszeiten der Kollegen. Sieh es als Chance, dich zu profilieren.
  • Übermotivierten Kollegen kannst du auch einmal eine Prise Ritalin in den Tee tun. Das ist nicht verwerflich, sondern Notwehr.
  • Betone vordergründig immer, wie wichtig Home Office ist, sonst wirkst du vorgestrig und wirst die Talente nicht halten oder akquirieren können. Allerdings solltest du regelmässig physische Meetings Montag früh oder Freitag spät ansetzen. Auch wenn die Home Office Jünger toben; weise darauf hin, dass Büro-Meetings unabdingbar sind für das Gruppengefühl.
  • Bei Sitzungen sagst du bereits zu Beginn, dass du eine halbe Stunde früher gehen musst. Das lässt dich wichtig erscheinen und du musst das Gelaber nicht die ganze Länge aushalten. Und bedenke, dass die Sitzung nicht schneller vorüber geht, wenn du ständig raschelst, dich räusperst, Papierflieger faltest oder in Babysprache sprichst. Bleibe ruhig und unauffällig.
  • Schweizerdeutsch und Dialekte gehören den Eingeborenen. Also biedere dich nicht peinlich an und sprich deine Sprache.
  • Geschenke zu Abschieden oder Jubiläen sollen nicht offensiv sein. Also keine Kondome, Reptilien oder WC-Deckel schenken.
  • Bestechen und verführen von Vorgesetzten und Mitarbeitenden ist nicht ratsam. Die Whistleblower sind überall.
  • Wenn dein Chef wieder dieselbe Geschichte erzählt, unterbrich ihn nicht. Aber stelle andere Fragen als beim letzten Mal.
  • Mach Komplimente. Es gibt immer etwas Positives anzumerken. Aber mach kein Kompliment als Antwort auf ein Kompliment; das wirkt anbiedernd. Und sei vorsichtig mit Komplimenten, die eigentlich keine sind, wie: Die grauen Haare stehen dir, für eine Frau bist du sehr klug oder mir gefällt, dass du so selbstbewusst bist auf deiner Stufe.
  • Bleibe sachlich. Die Katastrophen der Zeit sind nicht kausal vom Sonnenstaub oder von Wasseradern verursacht. Falls du das glaubst, behalte es für dich.
  • Wenn du am Geschäftsanlass völlig betrunken auf dem Tisch getanzt hast, entschuldige dich nicht am nächsten Tag. Es wird dadurch nicht besser.
  • Vermeide klare Positionen oder Konfrontationen. Wenn sich schwierige Gesprächsthemen wie Krieg, Wokeness oder Klima nicht vermeiden lassen, taste dich vorsichtig an die Positionen der Anderen heran. Beispielsweise indem du Verständnis für alle Positionen zeigst, ohne klar Stellung zu beziehen. Oder frage einleitend, ich bin gespannt auf deine Meinung. Wenn du dich allerdings sagen hörst: Darf man das heute überhaupt noch sagen, dann hast du die zulässige Grenze bereits weit überschritten.
  • Bring Eigen- und Fremdbild in Übereinstimmung. Nichts ist schlimmer als ein Schwätzer, der sich für einen guten Redner hält.
  • Ändere ständig deine Meinung und sag: ich bin halt agil und lernfähig. Und bring als Beispiel Klimakleber, die waren früher auch noch nicht bekannt.
  • Prahle nicht nicht mit Fähigkeiten oder Besitztümern. Auch du bist sterblich und wirst nackt von dannen ziehen.
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