White Collar – Digitalisierung

«White Collar» ist unsere Satire-Kolumne über (Un-)Sinnigkeiten aus der Geschäftswelt. In der siebten Folge widmet sich der Autor Andreas Hönger der Digitalisierung.

Digitalisierung ist ein Megatrend, der in jüngster Zeit zum regelrechten Hype hochgestuft worden ist (aufgrund der unklaren Definition ist er auch prädestiniert dazu): Industrie 4.0, Internet der Dinge, Smart Home, Blockchain, Big Data, Cloud, Robotics, KI, Maschine Learning, Data Analytics, Virtual Reality, 5G, Social Media, digitale Disruption, Transformation und Revolution. Aber statt das Leben zu erleichtern, beschleicht uns der Eindruck, dass ein beschäftigungstherapeutischer Plan verfolgt wird und man uns mit viel unnützem Tand davon abhalten will, uns wesentlichen Lebensfragen zuzuwenden. So werden wir die Utopie von John Maynard Keynes, mit drei Stunden Erwerbsarbeit pro Tag alle Bedürfnisse zu befriedigen, nicht erreichen. Viel näher an der Realität ist das Parkinsonsche Gesetz, wonach sich die Arbeit in genau dem Mass ausdehnt, wie Zeit für ihre Erledigung zur Verfügung steht.

Video ergo sum
Das Schauen hat das Denken verdrängt. Wir haben Smartphones, Tablets, TVs, Laptops, Monitore, Displays. Und dahinter ist immer ein mehr oder weniger ausgewachsener Computer. Wenn wir also den Bildschirm skalieren, rollen, falten, implantieren oder projizieren könnten, würden ein Computer und ein Bildschirm genügen.

Unser täglich Gerät gib uns heute
Wegen den erwähnten Bildschirmgrössen, aber auch aufgrund der immer noch vorhandenen unterschiedlichen Fähigkeiten (ein Marketinginstrument?) haben wir unzählige Computer, die wir alle unterschiedlich konfigurieren und bedienen müssen: Smartphone, Tablet, ein oder zwei Laptops.

Wer nicht weiss, wohin er will, der darf sich nicht wundern, wenn er ganz woanders ankommt.

Mark Twain (eigentlich Samuel Langhorne Clemens), 1835 – 1910

Und Digitalkamera, Bordcomputer, TV, Stereoanlage (das Thema skalierbare Lautsprecher behandeln wir nicht an dieser Stelle). Dabei sind bei gewissen Computern absurderweise noch papierene Bedienungsanleitungen in 15 Sprachen zu studieren, die Krieg und Frieden als kleine Broschüre erscheinen lassen; Digitalisierung zu Fuss. Man fragt sich, ob der Aufwand für den Unterhalt der Geräte und deren Bedienung den propagierten Effizienzgewinn nicht bei weitem übersteigt.

Wait until it's ready
Wiederum Folge der vielen Geräte ist, dass deren Betriebs- und Anwendungssoftware regelmässig geupdated (oder upgedated?) werden muss. Und was haben wir nicht schon gewartet, bis all die Updates endlich downgeloaded (gedownloadet?) und installiert wurden. Ganz zu schweigen von der sinnfreien Wartezeit für das Aufstarten, Herunterfahren (was fährt da eigentlich genau?) und Backupen (Backuppen?).

Kanalwirrwarr
Wo früher ein physischer Briefkasten genügte, werden wir heute auf allen Kanälen bombardiert: Email, SMS, WhatsApp, Websites, Jira, Confluence, SharePoint, Instagram, Facebook. Bevor man von Pflegerobotern redet, sollte es möglich sein, all die Eingangskanäle benutzerfreundlich in den Griff zu bekommen. Erschwerend kommt hinzu, dass es Push- und Pull-Kanäle gibt und dass für die verschiedenen Kanäle unterschiedliche Frequenzen gelten; eine Email ist mindestens in einem Tag zu beantworten, bei einer WhatsApp ist schon nach zwei Stunden Stress: Gehts dem Adressaten etwa nicht gut?

Daten en Masse
Mit der Digitalisierung lassen sich Daten verwenden, bearbeiten, wiedergeben, speichern und verteilen. Und es wird nicht mehr vergessen und aufgeräumt, sondern alles ist immer und ewig verfügbar. Dies führt zu Datenwüsten und einer völligen Überflutung, die uns täglich belastet.

Im Netz nichts Neues
Die digitalen Entscheidungshilfen, wenn sie überhaupt funktionieren, führen dazu, dass unser Sichtfeld verkleinert wird und unser Geist verkümmert. Man kriegt selektiv vorgesetzt, was einen interessiert. Nur noch die Themen Reisen und Sport zu lesen mag ja Spass machen, aber es macht einfach nicht gescheiter.

Go for the grey
Digitalisierung bedeutet Qualitätsverlust. Indem wir die Welt in digitale Datenformate von 0 (falsch) oder 1 (wahr) herunterdampfen, werden bei der Umwandlung des analogen Signals nur endliche Werte mit einer vorgegebenen Auflösung erzeugt. Das Original wird begrenzt, und die feinen Zwischentöne gehen verloren.

Quäle die Daten bis sie es zugeben
Wenn ein Computeralgorithmus einen Wert ausspuckt, so gilt er als wahr und schlagender Beweis, weil eine Maschine ihn objektiv und neutral errechnet hat. Doch wenn wir nicht wissen, welche Annahmen für die Berechnung getroffen wurden, können wir nicht beurteilen, ob das Resultat überhaupt stimmt. Ein Beispiel jüngeren Datums ist ein Fehler im Priorisierungs-Algorithmus bei der Covid Impfung, der dazu führte, dass einzelne angemeldete Personen von anderen Personen derselben Risikogruppe «überholt» werden konnten, auch wenn sich diese später angemeldet haben. Drum traue nur den Algorithmen, die du selbst programmiert hast.

It’s effectivity, stupid
Die Digitalisierung macht effektiv und weitgehend effizient die Welt zu Nullen und Einsen. Aber das kann nur Zweck und kein Ziel sein. Ginge es nicht vielmehr darum, uns das Leben zu erleichtern und uns Arbeit abzunehmen? Dazu müssten die Prozesse effizient auf dieses Ziel ausgerichtet werden; es genügt nicht, bloss alles Analoge zu digitalisieren. Oder mit dem Manager Thorsten Dirks ausgedrückt: Wenn Sie einen Scheissprozess digitalisieren, dann haben Sie einen scheiss digitalen Prozess.

Sie wissen, wo dein Haus wohnt
There ain't no such thing as a free lunch. Das gilt auch in der digitalisierten Welt, wo man sich über «kostenlose» Angebote freut, aber vielfach vergisst, dass diese mit unseren Daten, unserem Gold, bezahlt werden.

Hoffen wir, dass wir im Hype-Zyklus den Gipfel der überzogenen Erwartungen bald hinter uns lassen und nach dem Tal der Enttäuschungen via Erleuchtung das Plateau der Produktivität erreichen.

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