Neue Welt, aber das Chaos regiert wieder

Ja, wir alle machen uns so unsere Gedanken über den kommenden Winter. Vor allem jetzt, da der Herbst so plötzlich Einzug gehalten hat und die Temperaturen bereits einen kleinen Vorgeschmack auf den anstehenden Winter vermitteln.

Wenn der Winter so «extrem» wird wie der frisch zurückliegende Sommer, dann dürfte es tatsächlich gelinde gesagt etwas ungemütlich werden. Während sich die «Normalbürger» in Europa vor allem darum sorgen, wie viel ihrer Kaufkraft ihnen die verschiedenen Preisdeckel und Steuersenkungen auf Energie erhalten werden, gehen die Finanzmarktakteure deutlich weiter. Für sie ist klar: Es wird zu einer Rezession kommen, egal wie viel Geld die Politik noch locker macht. Die Frage an den Märkten ist derzeit nur noch, wie tief diese Rezession ausfallen wird. Es herrscht daher momentan wieder ein ziemliches Chaos an den Märkten, das ausbrach, seit sich ein lange nicht mehr gesehenes Gespenst wieder durch die Wirtschaft frisst und dies immer hartnäckiger. Die Rede ist von Inflation, die mittlerweile völlig aus dem Ruder gelaufen ist, weil mehr oder weniger alle hofften, es handle sich nur um einen kurzen bösen Traum, der vor allem Sondereffekten wie dem Post-Corona-Syndrom und dem Krieg in der Ukraine geschuldet sei, und nicht etwa um die Rückkehr einer Ungeliebten. In den USA ist es seit geraumer Zeit nicht allein die teurere Energie, welche die Preise treibt, sondern mehr und mehr sind es die sogenannten Zweitrundeneffekte. Unternehmen versuchen, die durch höhere Einstandskosten drohenden Margeneinbussen zumindest zu einem Teil auf die Konsumenten zu überwälzen. Das führt dazu, dass auch die Kernrate der Inflation unangenehm, vor allem aber kaum tolerierbar hoch liegt, weshalb die amerikanische Notenbank nun die geldpolitischen Zügel drastisch angezogen hat. Auch in Europa zeichnet sich ab, dass sich die energetischen Preisschocks festfressen und der anziehenden Inflation mit einer Fortführung des ohnehin völlig verfehlten geldpolitischen Streichelkurses kaum beizukommen sein wird, weshalb die Märkte rasch den kleinen Sommertraum mit vorübergehend wieder zulegenden Kursen ausgeträumt haben.

Was wir in den letzten Monaten gesehen haben, hat nichts mehr mit Entscheidungsfindung zu tun, sondern ist Ausdruck puren Unwissens, teils blanker Panik.

Martin Neff, Chefökonom Raiffeisen

Natürlich neigen die Märkte stets zu Übertreibungen, und die werden umso stärker, wenn Umbrüche absehbar werden. Und die Akteure benötigen jeweils Zeit, um Unwägbarkeiten auszutarieren. Doch was wir in den letzten Monaten gesehen haben, hat nichts mehr mit Entscheidungsfindung zu tun, sondern ist Ausdruck puren Unwissens, teils blanker Panik. Wenn sich langfristige Zinsen innert zwei Wochen verdoppeln, um danach in knapp drei Wochen wieder 70% abzugeben, dann ist das nichts anderes als Dokument eines einzigartigen Blindfluges, um nicht zu sagen Ausdruck einer Schwarmdummheit an den Märkten, wo jeder mal so seine Wetten abgeben darf. Ein Trend ist jüngst aber trotz aller Volatilität und Unsicherheiten klar geworden. Die Zinsen werden tendenziell eher nach oben denn nach unten tendieren, Gift für die Märkte. Hinzu kommt, dass die Konjunktur lahmt, was sich wohl auch in den Unternehmensgewinnen, noch viel mehr aber in den Gewinnerwartungen widerspiegeln wird. Ebenso Gift für die Märkte. Sodass am Ende zu konstatieren bleibt: bloss ruhig Blut bewahren und bloss nicht auf kurzfristige Marktbewegungen aufspringen. Denn die Rezession dürfte kaum vermeidbar sein. Aber es dürfte eine genauso unkonventionelle Rezession geben, wie es die Marktbewegungen aufzeigen, denn im Gegensatz zu früheren Wirtschaftseinbrüchen zeigen sich die Arbeitsmärkte ziemlich robust. In den USA herrscht nach wie vor Vollbeschäftigung und auch wenn es gerade dort auch zu raschen Veränderungen der Beschäftigungssituation kommen kann, dürften diese weniger drastische Verwerfungen nach sich ziehen als in früheren Zyklen. Dies gilt auch für Europa, wo sich das Szenario einer Stagflation bei gleichzeitig robuster Beschäftigung zu materialisieren beginnt.

Und in der Schweiz? Für einmal mehr gilt, dass die hiesige Wirtschaft ziemlich gut gefeit zu sein scheint, robuster durch die absehbare Krise zu stolpern. Dank harter Währung ist der Importpreisschock eher zu bewältigen als anderswo, vor allem im Euroraum, der zusätzlich noch mit einem Währungszerfall kämpft. Nichtsdestoweniger geht es auch hierzulande ziemlich chaotisch zu. Nachdem die Regierung den Energiemangel monatelang stoisch ignorierte, geht es nun hektischer zu als auch schon. Und unsere Nationalbank ist wohl die einzige Zentralbank der Welt, die rechtzeitig und sehr schön dosiert dem Inflationsgespenst Herr werden dürfte. Für einmal darf ich, der die Geldpolitik der letzten sieben Jahre äusserst skeptisch beurteilt hat, unserem Währungshüter einen Kranz winden. Am Ende bleibt ein müder Spruch: Chaos hin oder her, auf die neue Welt ist die Schweiz bestens vorbereitet. Dies ist nicht Ausdruck von Hoffnung, sondern tiefster Überzeugung. Also cool bleiben und bloss nicht in Panik verfallen wie die Märkte, dafür ist noch Zeit, wenn es wirklich schlimm kommen sollte. Und damit bin ich am Ende meiner Ausführungen und werde nun das Auto packen. Es geht in die Ferien und das gleich zwei Wochen. Sie lesen wieder von mir. Auf bald!

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