Causa Vincenz: Ein Totalverlust des moralischen Kompasses

Die juristischen Feinheiten im grössten Schweizer Wirtschaftsprozess der letzten Jahre sind komplex. Eine Verurteilung der beiden Hauptangeklagten Pierin Vincenz und Beat Stocker in den zentralen Anklagepunkte erfordert eine lückenlose und unanfechtbare Beweiskette der Staatsanwaltschaft. Ein Schuldspruch scheint ungewiss. Er dürfte von den Beklagten ohnehin nicht akzeptiert werden. Es drohen jahrelange Rekurse über verschiedene Rechtsinstanzen hinweg. So sieht es unser Rechtssystem vor, und das ist in einem Rechtsstaat auch gut so. In der breiten Öffentlichkeit hingegen macht sich zunehmend Unverständnis breit. Das Vertrauen in die Justiz wird grossen Schaden nehmen.

Zwei umtriebige Firmenlenker treffen aufeinander und verknüpfen gemäss Anklage finanzielle Eigeninteressen zum Schaden Dritter. Im Raum stehen Vorwürfe im Zusammenhang mit verdeckten Finanzbeteiligungen. Im Rahmen konspirativer Geschäftsaktivitäten sollen dabei offensichtliche Interessenkonflikte negiert und verschleiert worden sein. So zumindest beurteilt die Zürcher Staatsanwaltschaft das Vorgehen von Pierin Vincenz und Beat Stocker, den beiden Hauptangeklagten im grössten Schweizer Wirtschaftsprozess der letzten Jahre. Während sich Normalbürger ob des dreisten Vorgehens der Beschuldigten die Augen reiben, plädieren die Verteidiger auf einen Freispruch ihrer Mandanten. Was bloss geht in den Köpfen der Beklagten vor, möchte man sich fragen. Wie kann man ein derart offensichtliches Unrecht ohne Verlust der Selbstachtung rechtfertigen und sich bestenfalls auf juristische Grauzonen oder Gesetzeslücken berufen? Die Antwort liegt auf der Hand. Beiden Protagonisten gemeinsam scheint ein ausgeprägter Hang zur Selbstüberschätzung und ein gehöriger Mangel an Unrechtsbewusstsein – vom Totalverlust des moralischen Kompasses ganz zu schweigen. Alleine die amourösen Eskapaden von Pierin Vincenz, der «Geschäftsbeziehungen» der besonderen Art unterhielt und dafür jahrelang die firmeneigene Kreditkarte bemühte, zeichnen ein niederschmetterndes Bild eines Vertreters der Schweizer Wirtschaftselite. Gleiches gilt für das Selbstverständnis von Beat Stocker, der sich medial als intellektuelles Ausnahmetalent darstellt, gleichzeitig aber kein juristisches oder ethisches Fehlverhalten seinerseits zu erkennen vermag. Sowohl Vincenz als auch Stocker zeigen sich bis heute uneinsichtig und verstehen sich vielmehr als Opfer einer überambitionierten Justiz. Das ist ihr gutes Recht. Zurück bleibt die bittere Erkenntnis, dass Richter und Staatsanwälte moralischem und ethischem Fehlverhalten nichts entgegenzusetzen haben. Die Buchstaben des Gesetzes sind dafür einfach nicht tauglich.

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