US-Aktien: Big Tech is back – doch wie lange?

Viele der Protagonisten des letzten grossen Tech-Bullenmarkts – darunter Alphabet, Apple, Microsoft, Meta und Nvidia – sind in diesem Jahr bei der beginnenden Erholung des Sektors ganz vorn dabei. Ob sich diese dynamische Entwicklung fortsetzt, kann derzeit niemand mit Sicherheit sagen. Immerhin: Der technologieorientierte CRSP US Mega Cap Growth Index hat seit dem 18. Mai um mehr als 26 Prozent zugelegt – fast dreimal so viel wie der S&P 500 Index. Was sind die Gründe für die Rally?

Der Tech-Bereich erlebte 2022 den stärksten Einbruch, sodass es nun eine entsprechend starke Gegenbewegung geben kann. Das ist sicherlich ein wichtiger Faktor. Man kann ausserdem mit einigem Recht sagen, dass viele der betroffenen Unternehmen mehr gelitten haben, als angemessen gewesen wäre, weil ganze Sektoren in einen Abwärtsstrudel gerieten und ein teilweise panischer Abverkauf stattfand. Auch die sich ändernden Zinsaussichten sorgen für willkommenen Rückenwind. Mitte Juni hatte die US-Notenbank Fed den Leitzins unverändert gelassen. Das hat langfristigen Anlagen Auftrieb gegeben, darunter auch vielen Technologiewerten.

Wir brauchen eine sanfte Landung, damit die aktuelle positive Entwicklung nachhaltig ist.

Christophe Braun, Equity Investment Director, Capital Group

Die schnelle Entwicklung der Künstlichen Intelligenz (KI), zum Beispiel des beliebten Chatbots ChatGPT, ist ein weiterer Faktor, der den Technologiesektor attraktiv macht. ChatGPT, das zu Microsoft und OpenAI gehört, sei in diesem Jahr zur am schnellsten wachsenden Anwendung für Privatverbraucher der Geschichte geworden. Man muss sich die einzelnen Unternehmen genau ansehen. Viele von ihnen senken ihre Kosten. Die Gewinnspannen steigen. Teilweise ändern sich auch die strategischen Ziele. Die zentrale Frage lautet dabei: Werden diese Unternehmen profitabel genug sein, um längerfristig in der Erfolgsspur zu bleiben?

Fokus auf Profitabilität und Effizienz
Nicht wenige Mega-Cap-Technologie- und Medienunternehmen sind aktuell interessant – aus unterschiedlichen Gründen. Im letzten Jahr verzeichneten sie starke Verluste, was dazu geführt hat, dass sie heute zurückhaltender und realistischer bewertet werden. Viele von ihnen mussten ihre Wachstumsziele neu definieren. Vor diesem Hintergrund agieren sie jetzt umsichtiger und effizienter. Meta Platforms (ehemals Facebook) ist ein prominentes Beispiel. Der Social-Media-Riese hat in den letzten Monaten mehrere Entlassungsrunden hinter sich gebracht und sein digitales Werbegeschäft mit KI-Tools zur Verbesserung seiner Systeme für die Zielgruppenwerbung umgestaltet. Diese und andere entschlossene Schritte haben dazu beigetragen, dass Meta am 26. April einen Umsatzanstieg von 3 Prozent im Jahresvergleich vermelden und damit eine Phase von drei Verlustquartalen beenden konnte. Netflix ist ein weiteres Beispiel für das neu entdeckte Kostenbewusstsein. In den letzten Monaten hat der Streaming-Riese mehrere wichtige Schritte hin zu mehr Effizienz unternommen, darunter die Einführung einer werbeunterstützten Serviceebene, effektive Massnahmen zur Verhinderung der Weitergabe und Mehrfachnutzung von Passwörtern und Planungen zur Beendigung seines DVD-Verleihgeschäfts.

Kann die Tech-Rallye weitergehen?
Auch wenn einzelne technologiefokussierte Unternehmen profitabler werden, besteht aus unserer Sicht ein grundlegendes Problem: Es deutet wenig auf ein robustes und nachhaltiges Umsatzwachstum hin. Wir sehen Gewinnspannen über den Erwartungen, weil Unternehmen plötzlich mehr Kostendisziplin an den Tag legen. Anleger reagieren positiv auf Unternehmen, die sich auf Rentabilität konzentrieren und sie auch erreichen, was in einem Umfeld mit hohen Zinsen eine vernünftige Strategie ist. Die Aktien steigen aber dennoch nicht, weil der Schwerpunkt auf organischem Umsatzwachstum liegt. Wir sind deshalb skeptisch in Bezug auf die im historischen Vergleich nach wie vor hohen Technologiebewertungen. Anleger sollten auch die Möglichkeit nicht ausser Acht lassen, dass sich das wirtschaftliche Umfeld in den kommenden Monaten verschlechtern könnte, etwa wenn die USA in eine Rezession fallen sollten. Wir brauchen eine sanfte Landung, damit die aktuelle positive Entwicklung nachhaltig ist.

Auswirkungen für Investoren: das Spektrum verbreitert sich
Unabhängig davon, ob der Big Tech Run weitergeht oder irgendwann ausläuft, ist die aktuelle Entwicklung eindeutig Teil eines grösseren Trends zu einer Erweiterung der Möglichkeiten seit dem Beginn des Bärenmarktes Anfang 2022. US-amerikanische Tech-Aktien mit hoher Marktkapitalisierung treiben heute zwar den Aufschwung voran, im Gegensatz zum grössten Teil der vergangenen Dekade sind sie aber längst nicht mehr das einzig interessante Betätigungsfeld für Anleger. In den letzten anderthalb Jahren sind zuerst die Inflation und dann die Zinsen stark gestiegen. Vor diesem Hintergrund werden verschiedene andere Sektoren und Regionen einen Aufschwung erleben. Dazu gehören aus unserer Sicht der Energie-, Gesundheits- und Industriesektor sowie europäische Aktien – die erstmalig seit vielen Jahren besser abschneiden dürften als ihre US-Pendants. In verschiedenen Phasen während der letzten 18 Monate sind traditionell wertorientierte und dividendenausschüttende Aktien stärker gestiegen als wachstumsorientierte Werte. Das sind gute Nachrichten für aktive Investoren. Früher lautete die Devise am Markt schlicht «entweder/oder». Heute haben wir ein wesentlich ausgewogeneres Umfeld. Es geht nicht mehr alles nur in eine Richtung. Das Spektrum der Anlageoptionen hat sich erweitert und umfasst Wachstums- und Qualitätsaktien, den Technologiesektor und Industrieunternehmen. Heute eröffnen sowohl zyklische als auch strukturell orientierte Werte gute Chancen. Für Investoren, die bereit sind, ihre Hausaufgaben zu machen, ist dies ein viel attraktiveres Umfeld als zuvor, mit viel mehr Möglichkeiten.

Hauptbildnachweis: Pixabay