Die Märkte warten auf ihren «Volcker-Moment» – sie könnten enttäuscht werden

Die Rückkehr der Inflation versetzt uns in eine Zeit mit einer Wirtschaftslage zurück, an die nur die Ältesten unter uns noch konkrete Erinnerungen haben. Alle anderen kennen sie nur aus Büchern oder Sammlungen alter Zeitungsartikel zu diesem Thema.

Die Marktteilnehmer der heutigen Zeit, die es bisher immer nur mit Disinflation und niedrigen Zinsen zu tun hatten, sind ratlos. Jeder von ihnen spekuliert auf den vermeintlichen Höhepunkt der Inflation, um besser voraussehen zu können, wann der Run auf die Anleihen und Aktien einsetzen wird, die durch eine Zinssenkung am meisten begünstigt werden. Sämtliche Kennzahlen zur Beschäftigung, Frühindikatoren für die Industrietätigkeit sowie das Ölangebot und die Ölnachfrage werden mit einer Gründlichkeit analysiert, die man so selten gesehen hat. Diejenigen, die der geldpolitischen Sprache mächtig sind, verbringen ihre Tage und Nächte damit, die abstrusen Äusserungen der Zentralbanker zu übersetzen und ihre unausgesprochenen Worte zu deuten. Die Akteure der globalen Finanzwelt unternehmen höchste geistige Anstrengungen, um den Wendepunkt der Preisentwicklung vorherzusagen, der von essenzieller Bedeutung für die Performance von Vermögenswerten in den kommenden Monaten ist. All diese Bemühungen können an einem frühen Morgen in New York durch eine Zahl zunichte gemacht werden, die nicht den Erwartungen entspricht und den Zentralbankchef dazu zwingt, seine Rhetorik und seine Politik zu ändern. Nach 40 Jahren Disinflation, in denen es nur wenige Phasen vorübergehender Preisanstiege gab, beginnt in der Finanzwelt eine neue Ära.

Sollte sich die Inflation als dauerhaft erweisen, ist ein Preisrückgang im Immobiliensektor aufgrund des durch Zinsprodukte verursachten Abwärtsdrucks im Prinzip unvermeidbar.

Frédéric Leroux, Portfoliomanager, Carmignac

Derzeit erwarten die Marktteilnehmer, dass die Inflation in den USA ihren Höhepunkt bei rund 9% erreicht, bis Juni 2023 auf 3% fällt und in den kommenden Jahren langsam auf 2,5% zurückgeht und dort lange verharrt. Anders gesagt wartet der Markt auf einen «Volcker-Moment», der durch Zinssenkungen die Rückkehr zu glorreichen Zeiten für Finanz- und Immobilienvermögenswerte einläutet. Paul Volcker wurde 1979 Präsident der US-Notenbank Federal Reserve, als das Land bereits seit 15 Jahren mit einer hohen Inflation zu kämpfen hatte, die 1980 mit 15% ihren Höhepunkt erreichte. Er bewies Mut und hob die Leitzinsen auf 20% an, obwohl die Inflation seit einem Jahr rückläufig war. Dies war der Beginn einer 40 Jahre andauernden Disinflationsphase.

Die Hoffnung, dass die Inflation erneut durch einen mutigen Zentralbankchef mit einem Schlag vernichtet wird, könnte allerdings enttäuscht werden. Dafür gibt es zwei Gründe: Erstens hat die Inflation, die durch die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie ausgelöst wurde, auch strukturelle, demografische und soziologische Ursachen, die mit der Entwicklung des Welthandels oder der Energiewende zusammenhängen. Dadurch könnte sie dauerhaft hoch bleiben. Zweitens hatte Paul Volcker nicht nur Mut, sondern auch sehr viel Glück. Zunächst einmal konnte er sich auf die Dynamik der US-amerikanischen Ölindustrie verlassen, die nach dem Ölpreisschock von 1973 alles daransetzte, ihre Produktion zu erhöhen. So konnte der Ölpreis ab Mai 1980 aktiv zur Disinflation beitragen. Kurz darauf wurde Ronald Reagan zum Präsidenten der USA gewählt. Der ehemalige B-Movie-Darsteller trat das Amt im November 1980 an, als die Inflation allgegenwärtig war und die Gehaltsforderungen astronomische Höhen erreichten. Auf den Streik der Fluglotsen, die höhere Löhne und eine kürzere Arbeitswoche forderten, reagierte er mit einer ebenso radikalen wie überraschenden Entscheidung: Er erklärte den Streik für illegal, veranlasste die Entlassung von 11‘400 Fluglotsen und bestimmte, dass diese bei der US-Luftfahrtbehörde keine Beschäftigung mehr aufnehmen dürfen. Dieser bedeutende symbolträchtige Akt im Kampf gegen die Inflation trug zum Ende der Lohnindexierung in den USA bei (und zeigte, wer das Heft in der Hand hielt). Die wenigen Phasen mit steigender Inflation in den darauffolgenden Jahren waren aufgrund der nicht vorhandenen Lohn-Preis-Spirale nie von Dauer. Bis zu diesem Jahr. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Paul Volckers Mut allein ohne diese beiden Ereignisse nicht ausgereicht hätte, um die Inflation einzudämmen.

Solch radikale politische Entscheidungen sind heutzutage in einem Industrieland undenkbar. Hinzu kommt, dass sich der globale Energiemix grundlegend verändert hat und mit sinkenden Energiepreisen definitiv nicht zu rechnen ist. Eine dauerhafte Inflation ist eine ernsthafte Hypothese, die uns dazu veranlassen sollte, über eine entsprechend angepasste langfristige Strukturierung unseres Vermögens nachzudenken. Vor diesem Hintergrund halten wir es für sinnvoll, sich den Aktienmärkten zuzuwenden und dabei Titel mit hoher Rendite und Aktien von Unternehmen der «Old Economy» zu bevorzugen, die in Expansionsphasen des Konjunkturzyklus erhebliches Aufwärtspotenzial besitzen. Bei Anleihen sind Selektivität und Flexibilität als Kernelemente der aktiven Verwaltung für uns von grundlegender Bedeutung. Im derzeitigen Umfeld kann die Anlage in Wertpapieren mit kurzer Laufzeit sinnvoll sein, sobald der Inflationsanstieg besser eingepreist ist. Sollte sich die Inflation als dauerhaft erweisen, ist ein Preisrückgang im Immobiliensektor aufgrund des durch Zinsprodukte verursachten Abwärtsdrucks im Prinzip unvermeidbar.

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