Weniger Wachstum ist immer noch Wachstum – Aktien gegenüber Anleihen im Vorteil

Zum Jahreswechsel zeigt die Weltwirtschaft ein gemischtes Bild: Bis vor kurzem standen noch alle Ampeln auf Grün, doch nun mehren sich die Anzeichen, die in den kommenden Monaten und Quartalen auf ein reduziertes Wirtschaftswachstum hinweisen. Für die abnehmende Konjunkturdynamik spricht einiges: Inflation, Lieferengpässe, Corona-Komplikationen, China.

Wir rechnen damit, dass die globale Konjunktur 2021 in der Schlussabrechnung knapp 6% Wachstum zeigen wird. Dies stellt eine enorme Wirtschaftserholung gegenüber 2020 dar, als die globale Wirtschaftsaktivität zum Vorjahr um 3% einbrach. Diese gewaltige Erholung erklärt sowohl das im abgelaufenen Jahr hervorragende Gewinnwachstum der Firmen weltweit als auch die im 2021 rapportierten, weit über dem historischen Durchschnitt liegenden Aktienavancen. Wir müssen zum jetzigen Zeitpunkt für 2022 von einem globalen Wirtschaftswachstum von 4,0% bis 4,5% ausgehen. (Die Zahlen beziehen sich auf die Veränderung des realen Bruttoinlandprodukts zum Vorjahr.) Dies ist gegenüber 2021 ein klar abnehmendes Wachstum, aber weiterhin ein Wachstum. Daher sind – besonders angesichts der historisch immer noch erhöhten Inflation – Aktien gegenüber Anleihen im Vorteil. Doch eine weniger hohe Aktiengewichtung als anfangs 2021 und eine besondere Berücksichtigung von weniger konjunkturabhängigen Aktien, beispielsweise des schweizerischen Aktienmarkts im globalen Vergleich, erscheint sinnvoll.

Die deutlichste Konjunkturabschwächung könnte China bevorstehen: Nach rund 8% Wirtschaftswachstum im 2021 erscheinen 5,0% bis 5,5% für 2022 denkbar. Hier kommt es auf die Reaktion der Behörden gegenüber dem deutlich verschuldeten Immobiliensektor an, der die Konjunktur belastet. Eine lockere Geldpolitik könnte zwar den übrigen Branchen helfen, doch die Verschuldung im Immobiliensektor in noch riskantere Höhen schnellen lassen. Zudem ist die von der Regierung erhoffte Stärkung des Konsums angesichts des seit längerem weniger dynamischen Wachstums des Einzelhandels schwierig. Japan und Lateinamerika sollten nach der Produktions- und Rohstofferholung von 2021 wohl 2022 ebenfalls weniger Konjunkturdynamik aufweisen.

Eine besondere Berücksichtigung von Schweizer Aktien erscheint derzeit interessant.

Gérard Piasko, Chief Investment Officer, Maerki Baumann

Auch die USA dürften 2022 weniger Wirtschaftswachstum zeigen: Nach rund 5,5% im 2021 sind für 2022 etwa 3,5% bis 4,0% zu kalkulieren. Die Lieferengpässe können zwar die aufgeschobene Produktion von Gütern von 2021 auf 2022 transferieren; zudem sorgt das beschlossene Infrastrukturprogramm für weiterhin hohe Staatsausgaben. Die im globalen Vergleich aber besonders deutlichen Preiserhöhungen (bei Gütern und Dienstleistungen oft zwischen 5% und 15%) dürften zu einer wieder reduzierten Nachfrage des Privatkonsums führen. Der Privatkonsum ist mit über 70% des Bruttoinlandprodukts (BIP) der wichtigste Faktor für die Wirtschaft. In der Eurozone ist der zu veranschlagende Konjunkturrückgang weniger ausgeprägt. So rechnen wir für 2022 mit einem BIP-Wachstum von etwa 4% nach rund 5% im 2021. Dies aus zwei Gründen: Zum einen wirken die Gelder des EU-Wiederaufbaufonds vor allem für Südeuropa unterstützend. Zum anderen ist der sogenannte Basiseffekt geringer: In den USA gab es 2021 Geld-Checks von der Regierung, die 2022 wegfallen. Dies war in der EU nicht der Fall.

Für Europa und die anderen Regionen bestehen nach wie vor Risiken durch Corona-Komplikationen, d. h. mögliche Einschränkungen und bei Produktionsunterbrüchen auch wieder Lieferprobleme. Dieses Thema könnte global noch für Monate die Inflation beeinflussen. Solange Lieferschwierigkeiten bestehen und/oder von Russland und der OPEC die Energieproduktion (Gas und Öl) nicht stärker hochgefahren wird, bleiben die Inflationsraten erhöht, bevor die hohen Energiepreise des zweiten Halbjahres 2021 später im 2022 inflationssenkende Basiseffekte erlauben.

Die globale Verschuldung wird 2022 ebenfalls ein Thema bleiben. In China ist die Unternehmensverschuldung im Fokus, die sich in den letzten Jahren besonders im Immobiliensektor massiv erhöht hat. In einigen europäischen Ländern und vor allem in den USA hat seit 2020 die Staatsverschuldung deutlich zugenommen. Daher müssen die Zentralbanken in ihren Überlegungen, wie sie der erhöhten Inflation begegnen wollen, auch auf die Zinslast der Regierungen Rücksicht nehmen. Dies bedeutet, dass sie mit Zinserhöhungen vorsichtig umgehen sollten.

Alles in allem sieht es momentan für Aktien hoffnungsvoller aus als für Anleihen, denn weniger Wachstum ist für Aktien immer noch Wachstum, und die Inflation bleibt für Anleihen ein Hindernis. Dennoch könnte derzeit eine geringere Aktienquote als zu Beginn des 2021 und eine Berücksichtigung von weniger konjunkturabhängigen Aktienmärkten, also ein Fokus auf die Qualität der Schweizer Aktien, sinnvoll sein.

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