Doppelter Vorzeichenwechsel an den Kapitalmärkten
Wir erleben an den Kapitalmärkten gerade einen doppelten Vorzeichenwechsel. Zum einen tritt die Geldpolitik in den USA und Europa in eine neue Phase ein. Zum anderen vollzieht sich an den Aktienmärkten in diesen Wochen offenbar ein interessanter Favoritenwechsel.
Zwar ist die Inflation im Euroraum einer ersten Schätzung zufolge im März 2024 auf 2,4 Prozent gesunken. Damit hat sich der Rückgang der Teuerungsrate fortgesetzt – im Februar 2024 lag sie bei 2,6 Prozent und ein Jahr zuvor, im März 2023, sogar noch bei 6,9 Prozent. Doch die Kerninflation, in deren Berechnung die schwankungsanfälligen Preise für Energie und Lebensmittel ausgeklammert werden, lag auch noch im März 2024 bei 2,9 Prozent. Damit hat die EZB im Kampf gegen die Inflation zwar grosse Fortschritte erzielt. Allerdings ist sie noch nicht besiegt. In den USA hat die Inflation sogar wieder angezogen.
Jan Viebig, Chief Investment Officer, ODDODie Rückführung der Inflation unter die mittelfristige Zielmarke von 2 Prozent, die sich die EZB wie auch die Fed gesetzt haben, ist kein Selbstläufer.
Es scheint sich wieder einmal eine alte Ökonomen-Weisheit zu bewahrheiten: Die letzte Meile ist die schwierigste. Nach wie vor gehen von der Lohnentwicklung Risiken aus, und auch der jüngste Ölpreisanstieg auf rund 90 US-Dollar pro Fass sorgt für Unsicherheiten. Die Rückführung der Inflation unter die mittelfristige Zielmarke von 2 Prozent, die sich die EZB wie auch die Fed gesetzt haben, ist kein Selbstläufer.
Wir rechnen weiterhin damit, dass die Fed und die EZB in diesem Jahr die Zinsen weiter senken werden und dass sie möglicherweise noch vor den Sommerferien einen ersten Schritt machen könnten. Doch wir stellen uns auch darauf ein, dass sowohl die Zahl der Zinsschritte wie auch das Ausmass der Zinssenkungen in diesem Jahr unter dem bleiben werden, was die Marktteilnehmer noch vor wenigen Monaten erwartet hatten. Dies ist kein dramatischer Vorzeichenwechsel. Doch sollten die Anleger unter den aktuellen Voraussetzungen nicht allzu grosse Hoffnungen auf eine Unterstützung durch die Geldpolitik setzen.
Der zweite Vorzeichenwechsel betrifft die Aktienmärkte. In den vergangenen Monaten hatten Anleger nur wenig Chancen, dem Phänomen der «Glorreichen Sieben» an den amerikanischen Aktienmärkten zu entgehen. Doch es mehren sich die Zeichen, dass sich die Gruppe der «Glorreichen Sieben» aufgelöst hat. Bei einigen Titeln ist die Aufwärtsbewegung abgebrochen. Die Aktie des Elektro-Autobauers Tesla beispielsweise beendete im Sommer 2023 kurz vor der Marke von 300 US-Dollar ihren Kursanstieg und notiert nun bei weniger als 180 US-Dollar. Auch die Apple-Aktie hat in den vergangenen Monaten Kursverluste verzeichnet.
Jan ViebigEine starke Konzentration auf wenige Tech-Aktien halten wir langfristig nicht für gesund für die Börse, zumal ihre Bewertungen anspruchsvoll geworden sind.
Zum aktuellen Stand, im April, sind es vor allem Rohstoffwerte, die Impulse nach oben lieferten. Dies bestätigt uns darin, wie wir es zu Jahresanfang erwartet haben, dass der Kursaufschwung 2024 möglicherweise nicht mehr so konzentriert von einer kleinen Gruppe von Aktien getragen wird wie 2023, sondern an Breite gewinnen könnte. Im S&P 500 stehen die sieben stärksten Performer für 61 Prozent der Performance des Aktienindex. Für den breiten, europäischen Index Stoxx 600 liegt diese Kennziffer bei 55 Prozent. Das bedeutet, dass in Europa mehr Aktien positiv zum Kursaufschwung beigetragen haben als an Wall Street. Das Auslaufen der Glorreichen-Sieben-Welle ist somit der zweite Vorzeichenwechsel, der sich gerade an den Finanzmärkten vollzieht. Anleger müssen es nicht bedauern, wenn die Aktienmärkte künftig von einer breiteren Vielfalt an Aktien und Geschäftsmodellen getragen werden sollten. Eine starke Konzentration auf wenige Tech-Aktien halten wir langfristig nicht für gesund für die Börse, zumal ihre Bewertungen anspruchsvoll geworden sind.
Andere Trends – beispielsweise verändertes Konsumverhalten oder Innovationen im Gesundheits- und Pharmabereich – werden unseres Erachtens nach die Finanzmärkte ebenfalls stark bewegen. Deshalb bleiben wir in der Gewichtung von Aktien weiter auf «neutral». Allerdings weiten wir Aktienengagements nur selektiv aus – und zwar dann, wenn uns das Geschäftsmodell überzeugt, die Cashflow-Rendite hoch ist und uns die Bewertung des Unternehmens an der Börse angemessen erscheint.