Neue Horizonte

Ist die weltweite Inflation endlich unter Kontrolle, und wenn ja, was könnte dies 2024 für globale Anleger und Anlageklassen bedeuten? Nach monatelangen konzertierten Bemühungen der grossen Zentralbanken, den Inflationsdruck zu verringern, scheint sich das Bild zu verbessern. Da es jedoch kaum Anzeichen dafür gibt, dass die Banken die Zinsen in nächster Zeit senken werden, und weiter Rezessionsängste bestehen, stellt sich die Frage, ob es den politischen Entscheidungsträgern weltweit gelingt, hier das richtige Gleichgewicht zu finden.

Dies ist nur eine der schwierigen Fragen, vor denen die globalen Anleger zu Beginn des neuen Jahres stehen, und dies in einem finanziellen Umfeld, das viele immer noch als «neues Regime» bezeichnen. In diesem sich wandelnden Umfeld sind die Zinsen nach jahrelangen Interventionen durch die Zentralbanken, die historisch niedrige Zinssätze begünstigt haben, auf ein höheres Niveau zurückgekehrt und dürften dort für einige Zeit bleiben.

Die Schlüsselfrage ist unserer Meinung nach, wo sich die Zinssätze auf längere Sicht einpendeln werden, sobald wir die derzeitigen wirtschaftlichen Turbulenzen überwunden haben.

Shamik Dhar, Chefvolkswirt, BNY Mellon Investment Management

Doch könnte sich im vieles ändern. Jenseits rein wirtschaftlicher und finanzpolitischer Entwicklungen birgt die Geopolitik immer das Potenzial für unerwartete Bedrohungen und Risiken. Wie das Aufflammen des Konflikts im Nahen Osten zeigt, können in einer zunehmend unsicheren Welt plötzlich und unerwartet neue Risiken auftreten. Veränderungen in der politischen Landschaft können ebenfalls einen grossen Einfluss auf die Märkte haben, und das kommende Jahr könnte einige Überraschungen und disruptive Entwicklungen bereithalten. 2024 steht eine Reihe wichtiger Wahlen an, unter anderem in den USA und in Europa.

Das grosse Ganze
Die Schlüsselfrage ist unserer Meinung nach, wo sich die Zinssätze auf längere Sicht einpendeln werden, sobald wir die derzeitigen wirtschaftlichen Turbulenzen überwunden haben. Im Gegensatz zu anderen Gruppen wie dem Internationalen Währungsfonds (IWF) oder bestimmten Zentralbanken gehen wir davon aus, dass sich die Zinsen auf einem höheren Niveau einpendeln werden als in der Zeit nach der Finanzkrise von 2008 bis 2019, als die Zinssätze praktisch bei null lagen. Unseres Erachtens gibt es Gründe dafür, warum die Inflationsausgleichskomponente der Zinssätze steigen könnte. Wenn der zugrunde liegende Inflationsdruck höher ausfällt, könnte es mehr unangenehme Angebotsschocks geben, die die Preise in die Höhe treiben, wie es nach der Pandemie der Fall war. Zudem könnten die Zentralbanken ihre Inflationsziele überprüfen. Über mindestens zehn Jahre seit 2008 haben wir intensiv darüber debattiert, ob die Inflationsziele zu niedrig sind, d.h. ob bei 2% die Gefahr besteht, dass zu oft die Nullgrenze erreicht wird. Diese Debatte könnte wieder in den Vordergrund treten, sobald die Inflation wieder unter Kontrolle ist. Selbst wenn dies de jure, d.h. durch politische Entscheidungen, nicht geschieht, könnte es de facto passieren, wenn die Zentralbanken entscheiden, dass die wirtschaftlichen Nachteile, die mit einer dauerhaften Rückkehr der Inflation auf 2% verbunden sind, zu hoch sind. Daher könnten die Zentralbanken im Wesentlichen eine Spanne von etwas mehr als 2 bis 2,5% anstreben, was es ihnen ermöglichen könnte, die Zinsen niedriger zu halten, als sie es sonst tun würden.

Es sieht so aus, als hätte die Inflation in den meisten grossen Volkswirtschaften ihren Höhepunkt erreicht. Ein Hauptproblem ist jedoch, dass es lange dauern kann, die Inflation aus den Köpfen zu bekommen, wenn sie sich einmal darin festgesetzt hat.

Shamik Dhar

Es sieht so aus, als hätte die Inflation in den meisten grossen Volkswirtschaften ihren Höhepunkt erreicht. Sie könnte sich im Laufe des nächsten Jahres relativ schnell in Richtung 3% oder zwischen 2 und 3% bewegen, insbesondere wenn es zu Rezessionen kommt. Ein Hauptproblem ist jedoch, dass es lange dauern kann, die Inflation aus den Köpfen zu bekommen, wenn sie sich einmal darin festgesetzt hat – vor allem wenn die Zentralbanken nicht bestimmt genug auftreten, um die Menschen davon zu überzeugen, dass sie die Inflation wieder auf ihren Zielwert senken werden. Ich vermute, dass dies im Vereinigten Königreich und in Europa ein grösseres Problem ist als in den USA. Ein Grund dafür ist, dass im Vereinigten Königreich und in Europa eine erhebliche sogenannte Reallohnresistenz herrscht. Wenn die Inflation steigt, verlangen die Arbeitnehmer nach höheren Löhnen und die Unternehmen versuchen, ihre Gewinnspannen zu schützen, was im Wesentlichen zu einem Inflationszyklus bzw. einer Inflationsspirale führt. Dies kann schnell Erwartungen hinsichtlich eines Endes der Inflation schüren, und zwar nicht nur über die nächsten zwölf Monate, sondern auch mittelfristig. Ich vermute, dass es schwieriger sein könnte, als die Märkte glauben, zu vermitteln, dass es bei dem Inflationsziel von 2% bleibt. Dies erklärt auch, warum die Zinserwartungen in den meisten Volkswirtschaften nun längerfristig höher ausfallen.

Fondsmanager und Anleger sind an die Vorstellung gewöhnt, dass höhere Zinssätze grundsätzlich schlecht für die Anleihekurse sind, weil die Renditen steigen. Kurz- bis mittelfristig trifft das sicherlich zu, aber in vielen Fällen, insbesondere bei Anlegern, die Anleihen längerfristig halten, ergibt sich die Rendite grösstenteils aus der Ertragskomponente. Wenn man eine Anleihe bis zur Fälligkeit hält, hat die Preisschwankung während dieser Zeit zwar Auswirkungen auf den Marktwert dieser Anleihe, aber keinen Einfluss auf ihre langfristige Rendite; man erhält im Wesentlichen das, wofür man bezahlt hat, plus die Kupons dazwischen. In diesem Sinne ist es also immer die Einkommensrendite, die über längere Zeiträume die Anleiherenditen dominiert, was bedeutet, dass höhere Zinssätze für Anleihegläubiger von Vorteil sein können.

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